Wenn das eigene Leben auf einer Lüge basiert

2010. In Seeldorf oberhalb des Bodensees wird auf dem ehemaligen Bauernhofgrundstück der Familie Obergfell ein früherer Feuerlöschteich ausgehoben, um dort den Bauschutt des Bauernhauses zu entsorgen. Dem geplanten Abriss soll ein moderner Neubau folgen, der jedoch ins Stocken gerät, da beim Aushub menschliche Knochenteile gefunden werden. Die männliche Leiche respektive deren Überreste liegt dort seit über fünf Jahrzehnten, aber wie kam der Mann in den Teich? Ein Unfall oder gar ein Mord? Und um wessen Leiche handelt es sich überhaupt?
2015. Jakob Simon arbeitet mit siebzig Jahren noch immer für das Fernsehen und erstellt Dokumentationen zum Thema Rechtsextremismus. Vor drei Jahren starb seine neunzigjährige Mutter Verena Obergfell. Aufgrund seiner intensiven Arbeit hatte er keine Zeit sich von ihr zu verabschieden, jetzt gilt es, endlich die Wohnung aufzulösen und das Haus zu verkaufen. In der Wohnung findet Jakob ein Tagebuch sowie einen Abschiedsbrief, die sein bisheriges Leben in einem völlig neuem Licht erscheinen lassen. Bislang ging er davon aus, dass sein Vater der Gestapo-Mann Otto Simon war, aber aus der hinterlassenen Lektüre der Mutter zeigt sich, dass diese damals den Juden Levi Roth vor den Nazis versteckte und sich dabei der sogenannten Rassenschande schuldig machte. Ein Verhältnis mit einem Juden führte ins KZ, allein, die Seeldorfer halten sich zurück und Verenas Bruder findet eine Lösung. Verena, von Levi bereits schwanger, soll ihre Jugendliebe Otto Simon heiraten, die nicht mehr zu verbergende Vaterschaft einem gefallenen Soldaten in die Schuhe geschoben werden und – nicht zuletzt – Levi verschwinden. So könnten alle überleben.
Jakob muss die Wahrheit wissen und offenbar kennen viele der Dörfler diese nur zu genau. Wie schon die Mutter, wollte niemand darüber sprechen. Die alten Zeiten sollen ruhen, aus und vorbei. Aber wer ist nun der Tote im Teich: Sein bislang angenommener oder sein leiblicher Vater? Und ist der andere dann dessen Mörder? Fast noch schlimmer als die Beantwortung dieser Fragen ist für Jakob, dass er feststellen muss, dass selbst das beschauliche Seeldorf nicht vor dem wiedererstarkten Rechtsextremismus haltmacht. Junge Männer, teils noch Jugendliche, treffen sich im Geheimen und grölen alte Nazilieder und Parolen. Sie sehen sich als Neuerscheinung der kämpfenden SA, deren politischer Arm nunmehr die AfD ist.
Breitseite gegen Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit
Erich Schütz, Buchautor und Verfasser verschiedener Fernsehdokumentationen, beschreibt in Jakob Simon ein stückweit sich selbst, zumindest soweit es um dessen beruflichen Background geht. Erzählt wird ein vielschichtiger und spannender Polit-Krimi, der aus drei Erzählsträngen besteht. Er spielt in der Gegenwart des Jahres 2015, in der Jakob entdeckt, dass sein bisheriges Leben beziehungsweise seine Familiengeschichte auf einer großen Lüge basiert. Er spielt in den Jahren 1944 und folgende, in denen Verenas Schwangerschaft, das Verstecken von Levi und das weitere Geschehen aufgezeigt werden. Und er spielt erneut in 2015, parallel zu Jakobs familiären Entdeckungen, wo junge Menschen in die rechtsextreme Szene abgerutscht sind und eine Demonstration gegen eine geplante Sammelunterkunft für Geflüchtete vorbereiten. Ein Anschlag inklusive.
Schütz hat sich intensiv mit der Materie beschäftigt und seziert nicht nur die Veränderungen in einem ebenso beschaulichen wie fiktivem Kaff während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Stramme Mitläufer und engagierte Nazischergen wollen selbstredend nach Kriegsende nie dabei gewesen sein. Doch halt, einige Ewiggestrige träumen bereits kurz nach Ende des Krieges schon wieder vom Abzug der Besatzer und einem „Weiter so“, als hätte es die Konzentrationslager nie gegeben. Lügen der Besatzer, Fake-News, damals wie heute. Nachkommen alter Nazis träumen heute erneut von einem Deutschland für Deutsche und verfallen auf plumpe Vorurteile.
„Wir Juden waren schon immer nur Flüchtlinge, die meisten haben sich in den Berufen der Schneider oder Sattler und Händler herumgeschlagen. Wären sie so reich gewesen, wie du meinst, hätten sie doch mit ihrem Geld Hitler verhindern können, wie die Reichen mit ihrem Geld Hitler an die Macht verhalfen und heute, nach dem Krieg, noch reicher sind.“
Gekonnt zeigt der Autor das Ende und den Zerfall des Dritten Reiches auf, die Zeit in den Nachkriegsjahren, wo man das Schlimmste überwunden glaubte, und dann nach dem Fall der Mauer plötzlich überrascht war, dass da nicht nur Sozialisten und Kommunisten zum Vorschein kamen, sondern oftmals Rechtsextreme, die sich nun endlich austoben können. War es damals noch die NPD, die Fuß zu fassen versuchte, ist es neu die AfD, der der Autor sozusagen eine volle Breitseite verpasst. Wer sich mit der Frage beschäftigt, ob man diese „Partei“ womöglich wählen könnte, dem sei „Erblast“ durchaus als Argumentationshilfe empfohlen. Anhänger der Partei dürften mit dem Roman hingegen nichts anfangen können und vermutlich einmal mehr eine Verschwörung des Weltjudentums oder einen anderen Irrsinn vermuten.
Rechtsextremismus, damals wie heute. Wer sich für die Entwicklung von Kriegsende bis zur „Gegenwart“ interessiert, findet hier fundierte Informationen, die anschaulich, unterhaltsam, aber auch nachdrücklich vermittelt werden. Die Frage nach dem Toten im Teich gerät zeitweise etwas ins Hintertreffen. Das Szenario, wonach jemand viele Jahrzehnte nach Kriegsende auf ein Familiengeheimnis stößt, ist wohlbekannt. Mechthild Borrmann und andere lassen grüßen. Die Verknüpfung mit dem Thema Rechtsextremismus gibt dem Buch jedoch eine starke Eigennote. Eine klare Empfehlung und nicht zuletzt als Schullektüre bestens geeignet. Einziger „Kritikpunkt“, wenn man denn das Haar in der Suppe unbedingt finden will oder, um beim Thema zu bleiben, „das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, ist das von Jakob inflationär gebrauchte Wort „Verdammt“.
Autor: Erich Schütz
Titel: Erblast
Verlag: Gmeiner
Umfang: 384 Seiten
Einband: Taschenbuch
Erschienen: September 2025
ISBN: 978-3-8392-0872-4

Wertung: 12/15 dpt







