Kaleb Erdmann – Die Ausweichschule (Buch)

Kann und darf man überhaupt darüber schreiben, wenn man einen Amoklauf miterlebt hat, aber ihn und seine Konsequenzen gar nicht so unmittelbar mitbekommen hat? Wenn man zwar den Amokläufer gesehen hat, aber dachte, der wäre Teil eines Abiturstreichs, und einfach nach Hause gegangen ist? Und wenn ja, wie sollte man das tun? Fast 20 Jahre lang hat der Erzähler der „Ausweichschule“ den Erfurter Amoklauf, bei dem Robert Steinhäuser 16 Menschen und sich selbst tötete, anscheinend verdrängt: „Der Amoklauf lag einfach so tief in meiner Vergangenheit, dass er meinen Alltag an keiner Stelle kreuzte. […] Je weiter ich mich von der Schulzeit entfernte, desto weniger Anlässe gab es, zufällig darüber zu stolpern.“ Bis er dann in einer Frankfurter Apfelweinwirtschaft auf einen Betrunkenen stößt, der erst behauptet, den Amokläufer, „der’s auch nicht so leicht gehabt hat“, gekannt zu haben, und dann dem Erzähler die Nase bricht. „Wenn ich mit Abstand darüber nachdenke, war der Tag der gebrochenen Nase auch der Moment, in dem der Keim der Idee entstand, über Erfurt zu schreiben.“

Autor Kaleb Erdmann hat am 26. April 2002 als Fünftklässler selbst den Amoklauf erlebt, hat Robert Steinhäuser gesehen, aber die Toten nicht. Der Roman „Die Ausweichschule“ ist also autofiktional, aber was nun autobiographisch und was fiktional ist, bleibt für die Leser:innen offen. Alles, was den eigentlichen Fall angeht, seine Fakten und Folgen für Erfurt, hat Kaleb Erdmann aber präzise recherchiert und unverändert verwendet. Der Roman macht es einem schwer, nicht Erzähler und Autor gleichzusetzen und die Handlung als Erlebnisbericht zu sehen. Vollkommen authentisch schildert der Erzähler seine Innenwelt, seine Unruhe und seine Bedenken. Dazu trägt auch ein Dramatiker bei, der sich beim Erzähler meldet und ein Theaterstück über einen Amoklauf schreiben und aufführen möchte.

Du musst mir nichts anbieten, sagt der Dramatiker. Aber es ist mein Gefühl, fährt er fort, dass Verarbeitung auch bedeutet, zumindest für sich selbst eine Antwort auf die Frage nach dem Warum zu finden. Vielleicht auch nur eine vorläufige. Und mich würde interessieren, ob es so einen Prozess bei dir gegeben hat.S. 91/92

Jedes Kapitel ist in zwei Teile gegliedert: Der erste Teil beginnt mit dem Aufenthalt in Bamberg, wo der Erzähler eine Schüleraufführung des Theaterstücks ansehen und den Dramatiker persönlich treffen will. Der zweite Teil springt ein halbes Jahr in die Vergangenheit und beginnt mit dem Anruf des Dramatikers und den Gedanken und Erinnerungen, die dessen Interesse im Erzähler auslöst. Am Ende des Buches wird man die Zeitschienen miteinander vereinen können – die Erinnerungen an die Kindheit, die Versuche, ein eigenes Buch über den Erfurter Amoklauf zu schreiben, die Recherche dafür, das Erleben des Theaterstücks. Während des Lesens fließt dies ohne Verständnisschwierigkeiten nebeneinander her, ebenso wie sich Erzähler und Autor immer mehr überdecken.

Vieles erfährt man über den Amoklauf, der Versuchung, immer wieder selbst zu recherchieren, um zu wissen, ob etwas Fakt oder Fiktion ist, erliegen wohl die meisten Leser:innen. Letztendlich ist „Die Ausweichschule“ aber kein Buch über den Amoklauf, sondern über das Schreiben an sich. Der Erzähler schreibt über ähnliche Bücher beispielsweise von Emmanuel Carrère, beschäftigt sich mit den Büchern und Reporten, die kurz nach dem Amoklauf entstanden, und fragt sich, ob es einen Grund dafür gibt, eine Katastrophe in Kunst zu verwandeln. Letztendlich hat Kaleb Erdmann ein Buch darüber geschrieben, wie jemand kein Buch über den Amoklauf schreibt und veröffentlicht.

Ich bin mir nicht sicher, ob man unbedingt zwanzig Jahre später ein Buch über den Erfurter Amoklauf schreiben muss, Wunden aufreißen, einen Topf umrühren, den man vielleicht ganz in Ruhe lassen sollte. Welchen plausiblen Grund es dafür geben könnte. Was ich weiß, ist, dass meine Gliedmaßen heute, in den Zwanzigerjahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts, taub werden, wenn ich Erfurt zu nahe komme, und meine Luftröhre sich verschließt.S. 120

Ein weiteres zentrales Thema sind die Erinnerungen, die sich im Laufe des Lebens ändern können, bis man selbst nicht mehr exakt weiß, wie man etwas erlebt hat. Der Erzähler traut sich irgendwann selbst nicht mehr so ganz, und auch die Lesenden können sich nicht darauf verlassen, dass der Erzähler sich objektiv reflektiert und objektiv wahrnimmt. Das macht „Die Ausweichschule“ zu einem sehr intimen, intensiven Buch, in dem man so nah dran an den Gedanken des Erzählers ist, dass man sich besser immer wieder an das Label „Roman“ auf dem Buchcover erinnert. Der Amoklauf selbst wird aber faktisch und ausgerichtet an den Berichten der Behörden vermittelt – hier ist kein „True Crime“-Podcast entstanden, den der Erzähler – und damit auch der Autor – definitiv nicht schreiben möchte.

Fazit:

„Die Ausweichschule“ von Kaleb Erdmann ist kein einfach zu beschreibendes Buch, den es bricht mühelos und beim Lesen fast unbemerkt Genre-Grenzen, ist inhaltlich keine leichte Kost und bringt dennoch an den richtigen Stellen Ironie und Witz ins Spiel. Schließlich erhält sein Erzähler bei einem gemeinsamen Essen von einem Verleger die durchaus lustige Absage für sein Buch, er solle doch mehr wie Joachim Meyerhoff schreiben: „Wenn Ihr Roman so eine Meyerhoff’sche Art hätte, dann wäre das auch interessant, […] es wäre nicht so steif.“ So authentisch, wie der Roman erzählt ist, so sehr zieht er die Leser:innen in einen Sog. Nach der letzten Seite bleibt gedanklich viel hängen – es gibt viel Diskussionsstoff für den Austausch mit anderen.

Wertung: 15/15 dpt

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