Bov Bjerg – Die Modernisierung meiner Mutter. Geschichten (Buch)


Bov Bjerg - Die Modernisierung meiner Mutter - Cover © aufbau VerlagAls ein “Best of Bov” wird “Die Modernisierung meiner Mutter” angepriesen, eine Kurzgeschichtensammlung, welche kurzzeitig als (minimalst umfangreicheres) E-Book auch unter dem Namen “Ohne Brille kann ich rechts und links nicht unterscheiden” verfügbar war, überraschend wieder aus dem Programm genommen wurde und nun noch einmal als definitive Veröffentlichung auf den Markt kam. Bei der Gestaltung des Buches fällt natürlich gleich auf, dass das Cover dieselbe optische Sprache spricht wie Bjergs Bestseller “Auerhaus” und in dessen Erfolgswindstrudel noch ein paar Leser mitziehen soll. Was nicht verkehrt ist. Inhaltliche Parallelen zu “Auerhaus” wird man allerdings vergeblich suchen.

Die 22 über zwanzig Jahre verteilt entstandenen, lose miteinander verbundenen Kurzgeschichten erzählen aus den unterschiedlichsten Lebenslagen des namentlich nicht genannten Ich-Erzählers, und man kann eigentlich nur spekulieren, in welchem Maß in ebenjener Person nun ein Bjerg steckt oder nicht. Aufgeteilt in drei “Rubriken” namens “Erste Ausfahrt Mehrzweckhalle”, “Geänderte Verkehrsführung” und “Alle Richtungen” wird der Leser von einem Szenario ins nächste geschubst. Der Protagonist verliert in der Story “Schinkennudeln” seinen Job, da der alte Hofer, der an der Kirche einen Kaufladen hatte, verstorben ist. Und es kommen viele Geheimnisse ans Tageslicht – auch die Besuche des taubstummen Herrn Wagner im Hinterzimmer des Kaufladens. Später geht es zum Essen zu Bekannten, zu den Glinkas, und …

Schinkennudeln waren immer mein Lieblingsessen, aber einmal habe ich davon gekotzt.

(S. 9)

Und bereits hier deutet sich schon ziemlich gut das Spektrum der Stimmungen an, die im weiteren Verlauf des Buches aufkommen werden. Manches ist urkomisch bis absurd, anderes wieder melancholisch und traurig, hier wird es sarkastisch und polemisch, dort wiederum hoffnungsvoll. Dann aber wieder wirken manche Geschichten (“Der eine, der andere”, “Rolf, der Bremser”, “Der Onkel ist dann nach Amerika” oder “Das Schmutzige Schweinsnäschen”, in welchem erzählt wird, wie Bomben-Klaus zu Kopfschuss-Klaus wurde) wieder wie Beobachtungen, in die der Hauptcharakter nur peripher involviert ist. In anderen Erzählungen wiederum wird aus Zeiten in Berlin oder Göttingen erzählt, Paternosterphilosophie praktiziert, in anderen Storys findet man sich als stiller Beobachter in einer Fabrik wieder und wohnt zwei Arbeitern bei der Produktion eines Irgendwas bei. Es müssen 120 Stück pro Stunde fertig  sein. Die fertigen Irgendwasse sollen dann 300 Mark pro Stück kosten. Wofür auch immer sie gut sein mögen.

Die Länge der Geschichten variiert deutlich. Manche der Erzählungen erstrecken sich über rund acht Seiten, dann wieder gibt es welche, die nicht mal eine halbe Seite füllen. Immer wieder blendet die Kamera aus und woanders wieder ein, in unterschiedlichen Zeiten, und zwischendurch gibt es noch einige Miniaturen zur Auflockerung zu lesen, die auf den ersten Blick so gar nicht zum Rest passen mögen. Letzendlich, nach Lektüre dieses Büchleins, erkennt man jedoch die dünnen Fäden, die die einzelnen Fragmente zusammen halten.

Bov Bjerg, der eigentlich Rolf Böttcher heißt, liebt die Sprache und stellt mit ihr gern einige Abenteuerlichkeiten an. Da wird schon mal mitten im Satz die Sprache gewechselt, es werden Wörter kreiert, die gerade noch so in eine Zeile passen, und die Bildhaftigkeit diverser Verbalkonstruktionen lässt einen nicht selten laut auflachen. Auch verleiht er jeder Figur ihre eigene Stimme, sodass “Die Modernisierung meiner Mutter” trotz aller Anonymität des Protagonisten (der man selbst durchaus sein könnte, so nah, wie Bjerg hier am Leser schreibt) äußerst plastisch und akustisch wirkt. Und wenn man dann noch in den 60ern oder 70ern geboren ist, werden hier und dort durchaus Kindheitserinnerungen wach.

“Die Modernisierung meiner Mutter” ist ein kleines, an allen Ecken und Enden menschnelndes Panoptikum des normalen Lebens, mit all seinen Absurditäten, Kuriositäten, Normalitäten, freudigen und traurigen Ereignissen, mit Hoffnung und der Aufgabe selbiger. Und es zeigt auf schizophrene Weise, wie interessant und bedeutungslos Ereignisse zugleich sein können. Man könnte meinen, man blättere hier wahllos durch ein Tagebuch und lerne den Protagonisten und das, was um ihn herum passiert, besser kennen. Und gleichzeitig wird man der Vergänglichkeit gewahr, die das Leben mit sich bringt.

Wenn dieses Buch ein Musikalbum wäre, dann wäre es bestimmt kein Best-of-Album, sondern mehr oder weniger ein Konzept-Doppelalbum.

Cover © Blumenbar/aufbau Verlag

Wertung: 12/15 dpt


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