Karla Schmidt – Die Seelenfotografin (Buch)


karla-schmidt-seelenfotografin (cover copyright rowohlt repertoire)Ein wahres Kleinod

Ruven arbeitet als Assistent bei einem Fotografen auf einem der zahlreichen Berliner Rummel. Die Leiterin des Waisenhauses hatte ihn vor zehn Jahren dorthin abgeschoben. Der junge Mann verachtet seinen Meister, weil dieser unzüchtige Fotografien von oft viel zu jungen Mädchen macht, ausstellt und sogar unter der Hand verkauft.
In einer langweiligen Nacht spricht ihn ein vornehm wirkender Herr an und bietet ihm eine feste Anstellung in der Klinik für geistige und seelische Störungen. Ruven soll dessen Patienten in den verschiedenen Stadien ihrer Erkrankung fotografieren.
Die 14-jährige Isabell lebt mit ihrer Tante in einem neu gebauten Mietshaus in der Rosenthaler Vorstadt. Sie leidet unter hysterischer Lähmung und sitzt im Rollstuhl. Der Nachbarsjunge Peter kümmert sich um sie, während die Tante in einer Weddinger Zuckerfabrik arbeiten muss. Er bringt sie wöchentlich zu Dr. Greipel in die Klinik zur Behandlung. An seinem ersten Arbeitstag fotografiert Ruven Isabel, die ihm einen Vortrag über die einfachere und kostengünstigere Verwendung von Trockenplatten statt Nassplatten bei der Fotografie hält. Ab diesem Zeitpunkt sind die Schicksale der beiden offensichtlich miteinander verbunden.

Rowohlt Repertoire veröffentlicht seit Herbst 2016 Schätze, die lange vergriffen waren. 2010 musste Karla Schmidt ihren Roman unter einem Pseudonym veröffentlichen. Jetzt hat Rowohlt ihn unter ihrem bürgerlichen Namen neu aufgelegt.

»Die Seelenfotografin« klingt als Titel spirituell mit einem Hauch von Kitsch. Wie bei so vielen Büchern versteckt sich hinter einem nicht überzeugenden Titel ein wahres Kleinod. Der Roman erfüllt die Kriterien mehrerer Genres. Zuallererst ist er ein Sittengemälde Berlins während der Gründerzeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die Stadt explodiert, ein neues Bürgertum macht sich breit. Die Nutzung elektrischen Stroms ist noch selten, doch greift immer mehr um sich. Auf ihre Kosten kommen die Liebhaber der Geschichte der Fotografie.
Erinnert Ihr Euch, dass Eure Lehrer Euch von elektrischen Experimenten an Froschschenkeln im Physik- oder Biologieunterricht erzählten? Dieses geheimnisvolle elektrische Fluidum sollte Schizophrenie, Epilepsie und andere Nervenleiden heilen. Die Experimente des Dr. Greipel sind nichts für den zartbesaiteten Leser. Ist er skrupellos oder von der Jagd nach wissenschaftlichem Erfolg besessen?
Gleich mehrere tragische Liebesgeschichten spielen sich in dem aufblühenden Berlin ab. So ist „Die Seelenfotografin“ ein Liebesroman und ein Krimi, weil ein mysteriöses Familiengeheimnis nach Aufklärung schreit. Ein Verbrechen bleibt besser im Dunkeln.

Karla Schmidt lässt diese Vielfalt auf 300 Seiten lebendig werden. Jeden einzelnen Charakter zeichnet sie mit Empathie und Tiefsinn. Ihr gelingt diese Charakterisierung an vielen Stellen mit kurzen Nebensätzen, scheinbar spielerisch. Der Leser erfährt schnell, mit wem er es zu tun hat und welche äußeren Umstände eine Figur prägen, welche inneren Befindlichkeiten sie antreiben. Die Fabrikarbeiterin, die Näherin, die Hure, der Rummelbudenbesitzer, der Herr Doktor, der Vermieter. Es kann aufs Gemüt schlagen, wenn dem Leser bewusst wird, dass aus heutiger Sicht unmenschliche oder an Folter gemahnende Dinge im Dienste der Wissenschaft und des Fortschritts vor gut hundert Jahren stattgefunden haben. Andererseits finden wir das Zarte und Sanfte in dem Roman, eine tiefe Seelenpartnerschaft, Loyalität und Verständnis sowie Fürsorge und Menschlichkeit.
Der Leser fiebert mit jedem einzelnen Charakter mit, begleitet ihn voller Freude und gespannt durchs altertümliche Berlin. Es ist so, als würde er mittendrin stecken in den Hochgefühlen, die Aufstieg und schneller Erfolg – und die Liebe – bescheren, und mit verzweifeln ob unfassbarer Begebenheiten und argem Scheitern.

Der Roman gehört zu denen, die an Fingern und Augen festwachsen, bis er zu Ende ist. Er lässt den Leser mit etwas Wehmut zurück.

Cover © rowohlt

Wertung 13/15


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