Hörst du es auch? #1 – ZAZ


Hörst du es auch? #1 – ZAZ

ZAZ –  Je Veux (Aus dem Album „ZAZ“)

Vergangenen Sommer, August 2021: Urlaub! Klingt erstmal super. Weiß ich! Aber das Konzept ist nichts für mich. Ich mache mir per se nichts aus Urlaub. Gar nichts. Null! Dieses ganze Kofferpacken und Broteschmieren für die Familie, diese Hektik kurz vor der Abfahrt, wenn dann doch nicht alles wie geplant und vorgesehen, wie nächtelang im Detail von meinem Mann berechnet, ins Auto hineinpasst, diese Diskussionen, auf was man eventuell noch kurzfristig verzichten könnte und diese dann unter Sturzbächen von Tränen hervorgepressten Ängste der Kinder darüber, ob wir wirklich noch alles dabei haben, was für ein vierzehntägiges Überleben in der Zivilisation eines fernen Landes unabdingbar ist. Kurzum: Stress! Adrenalin bis in die Haarspitzen. Und dann erst die Fahrt. Horror! Diese aufgeregten Hörspiele mit viel zu übertriebenen Hintergrundgeräuschkulissen. Es macht mich wahnsinnig! Doch die Führungsobrigkeiten auf den Rücksitzen dulden während langer Fahrten eben keinerlei Erwachsenenmusik, geschweige denn Nachrichten. Und wenn man sich doch einmal kurzfristig unter Zuhilfenahme von Schokoladeneiern mit Plastikkern durchsetzen kann, dann wird hinterher umso heftiger gestritten und jeder will sofort was anderes hören. Endlich angekommen, geht es direkt weiter: „Mama! Hast du nicht das und das eingepackt?“ – „Schatz! Aber ich habe dir doch extra vorher gesagt!“ Vierzehn Tage lang, die ganze Familie rund um die Uhr, dicht an dicht, auf engstem Raum. Ich hasse Urlaub! Aber ich liiiiieeebe Frankreich! Und deshalb haben wir es wieder getan. 

Und jetzt sind wir da. Angekommen, in einem kleinen Örtchen am Meer, direkt an der Opalküste, wo die Menschen schlechte dritte Zähne haben, weil es ein sehr armer Ort ist; ein Ort, an dem sie so ganz und gar zauberhaft nett sind mit Kindern und den übrigen Urlaubern. Wir stehen auf dem Balkon unserer kleinen Ferienwohnung und ich muss weinen. Vor Glück! Unter uns, vor unseren Augen: eine Parade. Eine richtige Parade, heute ist ein Feiertag, wir verstehen nicht welcher, aber es hat etwas mit Kulturen und Toleranz zu tun und da sind unterschiedliche Gruppen von Männern und Frauen in bunten Kostümen auf der Straße unterwegs und sie tanzen wild und frei zu fröhlicher Musik. 

Je veux de l’amour, de la joie, de la bonne humeur. C’ n’est pas votre argent qui f’ra mon bonheur. Moi, j’veux crever la main sur le cœur. Allons, ensemble, découvrir ma liberté. Oubliez donc tous vos clichés. Bienvenue dans ma réalité / Ich will Liebe, Freude, gute Laune. Euer Geld ist nicht das, was mich glücklich machen wird. Ich will mit der Hand auf dem Herzen sterben! Lasst uns zusammen meine Freiheit entdecken. Vergesst also all eure Vorurteile. Willkommen in meiner Realität.“ 

Sie haben Trommeln und Pauken dabei, die Musik aus ihren Boxen überschlägt sich, ein Feuerspucker und einer auf Stelzen, die so hoch sind wie unser Balkon. Wir stehen da, wie vom Donner gerührt, mit weit offenen Mündern. Ja, ist das denn echt möglich? Ist hier etwa kein Corona? Doch! Hier ist auch Corona, ein paar der Zuschauer am Straßenrand tragen tatsächlich Masken, aber in Frankreich – vielleicht generell, vielleicht nur hier, ich weiß es nicht – hat man sich das Leben einfach zurückgeholt! Sie tanzen, sie singen, sie freuen sich und ich weine! Wie lange ist das her, dass ich Musik das letzte Mal so gehört habe, den Bass im Magen gespürt und, dass meine Füße ganz von selbst im Takt mitgehüpft sind? Wie lange? 

J’en ai marre d’vos bonnes manières, c’est trop pour moi. Moi je mange avec les mains et je suis comme ça. Je parle fort et je suis franche, excusez-moi. Fini l’hypocrisie, moi, je me casse de là. J’en ai marre des langues de bois, regardez-moi. D’ toute manière, je vous en veux pas. Et je suis comme ça, je suis comme ça. / Ich habe genug von eurem guten Benehmen, das ist zuviel für mich! Ich esse mit den Händen, so bin ich! Ich rede laut und bin direkt, tut mir leid! Schluss mit der Heuchelei, sonst hau ich ab! Ich habe genug von der ganzen hohlen Phrasendrescherei! Seht her, ich trage es euch jedenfalls nicht nach, so bin ich eben!“ 

Bitte nicht falsch verstehen. Alles, alles an diesen Beschlüssen im Kampf gegen Corona, es war sicher nötig, aber diese Musik, dieses Gefühl von Leben, von echtem Leben, es ist so großartig, es ist so wundervoll, so französisch. Ich möchte für immer hier stehen und atmen und hören und fühlen und weinen vor Glück. Jetzt kann der Urlaub sogar für mich beginnen, hier bringt mich keiner mehr weg. Und ich freu mich schon so dermaßen auf morgen früh, wenn ich in einer dieser kleinen schönen Bäckereien stehen werde, mit meinen drei Vokabeln, die ich auf Französisch sprechen kann und die gerade so ausreichend sind, um ein Baguette, ein Brioche und ein paar Croissants zum Familienfrühstück zu kaufen und wenn ich mit eben diesen drei Vokabeln in einer Bäckerei stehe, morgen früh und einfach nicht aufgeben werde, ihnen erklären zu wollen, was ein Vollkornbrot ist. Und hinter mir werden sich Menschentrauben unterschiedlichster Gefühlslagerung bilden und sie werden fluchen und mich hassen dafür. Aber das macht nichts. Das macht mir gar nichts. Denn ich liebe euch! ALLE! Vive la France!

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Über “Hörst du es auch?”

In dieser regelmäßigen Kolumne teilt Redakteurin Melanie Baier ihre persönlichen Gefühle und Erfahrungen zu einzelnen Songs.


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