Der Attentäter verübt einen Anschlag auf den österreichischen Thronfolger
Belgrad. 22. Juni 1914. Im Park der Festung treffen sich zu früher Stunde Oberst Dragutin Dimitrijević, Chef des serbischen Geheimdienstes und Mitbegründer der Schwarzen Hand, einem serbisch-nationalistischen Geheimbund, und Vojislav Tankosić, Major der serbischen Armee und ebenfalls Mitglied der Führungsebene der Schwarzen Hand. In wenigen Tagen, am 28. Juni, soll in Sarajevo der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand empfangen werden. Seit Jahrhunderten werden hier bosnische Serben von den Muslimen klein gehalten und sehen in den Österreichern die neuen Unterdrücker. Ein Attentat auf Franz Ferdinand wäre ein Zeichen, ein Befreiungsschlag für alle Serben. Tankosić hat dafür bereits drei junge Männer ausgewählt, doch je näher das Ereignis heranrückt, umso größer werden die Zweifel, ob drei neunzehnjährige aus ärmlichen Verhältnissen und ohne Militärerfahrung dazu in der Lage sind, einen Anschlag tatsächlich durchzuziehen.
„Nichts gegen Ilić. Der ist verlässlich. Aber die drei Jüngelchen, die das erledigen sollen … Wie heißen die noch mal?“
„Gavrilo Princip, Nedeljko Čabrinović und Trifko Grabež.
Major Rudolf Markovic vom österreichisch-ungarischen Geheimdienst in Sarajevo erhält während der Vorbereitung zum Besuch des Thronfolgers Hinweise, dass von Belgrad aus irgendetwas geplant sei. Allein es sind nur Gerüchte und die interessieren Oskar Potiorek, den Landeschef von Bosnien-Herzegowina nicht. Und selbst seine Majestät will von Risiken nichts wissen, schließlich soll ihm das Volk zujubeln. Zwar sind durch ein Militärmanöver tausende Soldaten vor Ort, aber wie sähe dies denn aus? Man will bejubelt, nicht als vermeintlicher Besatzer beschimpft werden. Zumal der Besuch ausgerechnet für den 28. Juni geplant ist, am Vidovdan, einem wichtigen Gedenktag der Serben anlässlich der Schlacht auf dem Amselfeld im Jahr 1389. So sollen ausschließlich Polizisten den Weg des Thronfolgers und seiner Gattin sichern, im Durchschnitt ein Polizist auf sechzig Metern. Viel zu wenig für Markovic, doch Potiorek nimmt ihn bis zum Schluss nicht ernst. Ein unglücklicher Zufall soll letztlich über Leben und Tod von Franz Ferdinand und seiner Frau, Herzogin Sophie von Hohenberg, entscheiden und in seiner Konsequenz letztlich den Ersten Weltkrieg einläuten.
Aus drei Perspektiven spannend erzählt
Ulf Schiewe, 1947 geboren und am 24. März 2023 verstorben, ist Freunden des Historischen Romans ein Begriff. Da wären die Montalban-Reihe (drei Romane), die Normannen-Saga (vier Romane) und die „Herrscher-des-Nordens“-Trilogie zu nennen. Hinzu kommen mehrere Einzeltitel wie der vorliegende Roman, der sich mit dem geschichtsträchtigen Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand beschäftigt.
Schiewe erzählt die Geschehnisse spannend wie einen Thriller aus vornehmlich drei Perspektiven, als da wären der Thronfolger, die Attentäter und die fiktive Figur des Major Markovic, der verzweifelt versucht, das Schlimmste zu verhindern. Doch wie so oft im Leben stehen bornierte Machtmenschen im Weg, im vorliegenden Fall Oskar Potiorek, der Landeschef von Bosnien-Herzigowina, welcher letztlich die Verantwortung für den Besuch trägt. Doch da im politischen Raum ja oft nicht sein kann, was nicht sein darf, lehnt er alle Sicherheitsvorschläge brüsk ab. Nahezu unfassbar: Für seine „Sicherheitsvorkehrungen“ am 28. Juni wird Potiorek später von Kaiser Franz Joseph belobigt und zum Oberbefehlshaber der Balkanstreitkräfte ernannt.
„Im Gegenteil. Wir erwarten fröhliche Menschen, die dem Thronfolgerpaar begeistert zuwinken. Je bunter und lebendiger, umso besser. Wir werden zeigen, dass die Bosnier treu zur Monarchie stehen.“
„Und was ist mit den Sicherheitsvorkehrungen? Davon haben wir bis jetzt noch gar nichts gehört.
Uwe Schiewe liefert einen spannenden Roman, der die Protagonisten äußerst lebendig erscheinen lässt und sich dabei weitgehend an den wahren Geschehnissen orientiert; von Markovic mal abgesehen, was dem Spannungsbogen geschuldet ist. Es ist bezeichnend, wie einerseits der Thronfolger, genau wie Potiorek. sämtliche Bedenken verdrängt, wobei es allerdings nur Hinweise, keine Beweise gab (in der Realität wohl noch weniger als im Roman). Doch welche Majestät kümmert sich um Gerüchte?
Die Vorbereitungen der Attentäter, deren Wünsche und Träume, ihrem Volk einen großen Dienst zur Befreiung aus der österreichischen Unterdrückung zu erweisen und gleichzeitig deren zunehmende Zweifel, je näher der Tag des Attentats näher rückt, ist großartig beschrieben. Wer will schon mit neunzehn Jahren sterben, eine Zyankalikapsel schlucken oder sich gar der Folter des österreichischen Geheimdienstes aussetzen und jahrelang im Gefängnis ausharren? Doch nicht selten sind es vor allem junge Menschen aus armen und daher eher bildungsfernen Verhältnissen, die daran glauben, das richtige zu tun; für die große Sache muss es sich doch lohnen, noch in hundert Jahren wird man ihre Denkmäler bewundern. Verblendung wohin man blickt.
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Stadt Sarajevo, in der europäische Moderne auf türkische Tradition trifft, sowie die politische Gemengelage, beispielsweise die Balkankrise, ansprechend dargestellt werden. „Anmerkungen des Autors“, ein Glossar sowie ein Personenverzeichnis runden den Roman ab. Wer sich mit der unmittelbaren Vorgeschichte zum Ersten Weltkrieg näher befassen möchte, dem sei noch das Buch „Die Schlafwandler“ des australischen Historikers Christopher Clarke empfohlen.
- Autor: Ulf Schiewe
- Titel: Der Attentäter
- Verlag: Bastei Lübbe
- Umfang: 509 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: November 2019
- ISBN: 978-3-404-17903-9
Wertung: 12/15 dpt