Nils Müller – Venusjahr für Fische


©edition kronzeugen

Er dreht seine Kreise, immer und immer wieder. Eine Blase voller Gedanken steigt auf und bahnt sich ihren Weg zur Oberfläche, an der sie zerschellt wie ein lang gehegter Traum und entlässt einen Schwall an Worten in die diffuse Welt des Protagonisten, der wie auch die Menschen, die ihn umgeben, versucht sein Leben in die richtigen Bahnen zu lenken. Schon steigt die nächste Gedankenblase auf und das Spiel beginnt von neuem und stellt ihn vor weitere Herausforderungen und Gedankenexperimente, derer er sich nicht entziehen kann. So in etwa lässt sich das Werk Venusjahr für Fische des Autors Nils Müller als Bild darstellen, welches sich beim Lesen der ersten Seiten abzeichnet.

Beim Aufschlagen fällt sofort auf, dass das Buch nicht dem klassischen Blocksatz folgt. Die Sätze sind zwar linksbündig, wie beim ebenfalls gängigen Flattersatz üblich, angelegt, bestehen aber oft nur aus einem einzelnen Wort. Schnell wird klar, dass der Autor nicht nur inhaltlich die mentale Situation seines Protagonisten zu untermalen weiß, sondern auch die Form des Textes einsetzt, die eher lyrisch daher kommt. Nicht selten kommt es vor, dass Gedankengänge durch Einschübe, sogenannte „Blitzlichter“, unterbrochen werden, die die Zerrissenheit des lyrischen Ichs gekonnt unterstreichen, sodass auch der Lesefluss sofort ins Stocken gerät, was an der Stelle aber in jedem Fall gewollt erscheint.

Nicht nur die Hauptfigur selbst, sondern auch Müllers Nebenfiguren schwimmen in ihrer Ohnmacht, ihren Ängsten, ihren Wünschen und vor allem in ihrer Sucht. Letztere ist es, die den inhaltlichen Tenor des Werkes bildet. Direkt zu Beginn von Venusjahr für Fische wird der immer gleiche Ablauf in einer Entzugsklinik thematisiert, wobei der Autor sich hier nicht in Details und Klischees über derlei Einrichtungen verliert, sondern sich sofort in das sehr persönliche Empfinden seines Protagonisten stürzt, dessen Namen nicht genannt wird, was als Kunstgriff so verstanden werden kann, dass eine Art Austauschbarkeit suggeriert wird. Ein Abhängiger unter vielen, der praktisch jeder oder jede sein kann. Das macht es leicht sich von Beginn an in die Geschichte reinzudenken. Zudem wird die Leserschaft immer direkt angesprochen, was sofort Nähe erzeugt. Schnell wähnt man sich in dieser Entzugsklinik , die als Aquarium fungiert und in der das lyrische Ich wie ein verwahrloster Goldfisch vor sich hindümpelt und seine immergleichen Runden dreht.

In der Nacht träumst du, während dein Körper Wasser, Wasser, Wasser wird, von einer Malerin, die Klavier spielt.

Sehr nah beschreibt das lyrische Ich seine Lebensrealität und geht dabei detailliert auf sein direktes Umfeld ein. Für die weiteren Menschen, die sich in der Therapie befinden, werden anhand ihrer Charaktereigenschaften, schnell Namen gefunden. Da gibt es das Goldfischweibchen, das nach Kokos riecht und vor sich her schwafelt, den Mondfisch, der Selbstgespräche führt und die Heringe, die ihre Väter vermissen. Alle trotten sie samt ihrer Selbstzweifel gedankenverloren von Therapie, zum Zimmer, zum Spaziergang, zur Therapie, zum Zimmer. Immer wieder ziehen sie die gleichen Bahnen.

Ein Neuzugang erweckt das Interesse des Protagonisten im besonderen Maße. Er bekommt den Namen Mottenfisch verpasst und es entspinnt sich eine Beziehung zwischen den beiden, die beide zeitweilig an ihre Grenzen bringt und sie aber auch aufleben lässt, bis die nächste Krise naht.

Im Park bleibt er an einer Platane stehen. Er zeigt auf einen verwachsenen Astring. Der Baum hat sein Gewebe über die Verletzung fließen lassen, sodass sich ein menschliches Gesicht bilden konnte.

Mit Venusjahr für Fische, das bei der edition kronzeugen erschienen ist, legt der Autor Nils Müller ein Werk vor, das mit einer lyrischen Bildhaftigkeit dazu einlädt, sich mit dem eigenen Selbst auseinanderzusetzen. Zu gern schiebt man dieses Gespräch mit dem eigenen Ich von sich weg. Ob das nun lediglich dem Alltag geschuldet ist oder vielleicht doch eher der Angst zu erfahren, was sich hinter dem verbirgt, was da wirklich in uns ruht, lässt sich nur vermuten. Den Mut aufzubringen sich diesem Werk zu widmen, um sich dem eigenen Selbst anzunähern und ins kalte Wasser zu springen oder wenigstens einmal kurz den Zeh reinzuhalten, lohnt allemal.

  • Autor: Nils Müller
  • Titel: Venusjahr für Fische
  • Verlag: edition kronzeugen
  • Erschienen: 2020
  • Einband:Kartoniert, Paperback
  • Seiten: 260
  • ISBN:978-3-9821953-0-8
  • Sonstige Informationen:
  • Produktseite 
  • Erwerbsmöglichkeiten


Wertung: 13/15 dpt

 


2 Kommentare
  1. Moin. Als Verleger von Nils Müller danke ich für diese tiefgehende Rezension. Kennen Sie schon das neue Werk von Nils Müller “Zwei Hand breit oder die Mutter des Malers, ruhend”? Es ist zur Leipziger Buchmesse 2023 erschienen. Gerne lasse ich Ihnen ein Exemplar zukommen. Freundliche Grüße, Detlef Plaisier

    1. Vielen herzlichen Dank für Ihren freundlichen Kommentar und danke noch einmal für die angenehme Lektüre. Ich freue mich, dass die Rezension zusagt. Momentan habe ich für neue Anfragen keine Kapazitäten frei und muss daher leider ablehnen. Viele Grüße Mariann Gáborfi

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