Tobi Dahmen – Columbusstraße (Graphic Novel)


Wir schreiben das Jahr 1935. Handlungsort ist das Haus der Familie Dahmen in der Columbusstraße im Düsseldorfer Stadtteil Oberkassel. Mutter sorgt sich um den kleinen Karl-Leo, der krank im Bett liegt. Vater teilt sich mit Eberhard die Zeitung. Peter hängt ein Familienporträt auf. Und die Tochter teilt die Sorge der Mutter. Es ist eine alltägliche Familienszene. Doch es ist die Zeit, in denen der Nationalsozialismus seine Netze immer weiter auswirft.

Düsseldorf ist eine belebte Stadt. Neben prächtigen Bauten fahren Autos zwischen Straßenbahnen. Und Männer treffen sich in Gruppen zum Wandern.

Dieses Bild eines – man könnte sagen – idyllischen Morgens wird schnell zerstört. Ein Krieg naht, dessen Ausmaße im Jahre 1935 noch nicht erahnt werden können. Nicht nur Familie Dahmen wird auf vielfältige Weise in die Kriegsgeschehnisse verwickelt. Auch Familie Funken bleibt nicht verschont. Doch beide Familien trifft das Schicksal auf unterschiedliche Weise.

Wie beginnt man eine Rezension, wenn die vorliegende Graphic Novel mit Informationen nur so überfordert? Vielleicht genau mit diesem Aspekt.

Tobi Dahmen erzählt vordergründig die Geschichte der Familie Dahmen von 1935 bis 1945. So weit, so gut. Doch schnell kommt da noch Familie Funken dazwischen. Und wie es in einer Geschichte mit drei Söhnen zu Kriegszeiten üblich ist, teilt sich Erstere in unterschiedliche Handlungsstränge, da die Söhne an verschiedenen Fronten kämpfen müssen. Es dauert also, bis die Leser*innen sich einen Überblick über die Protagonisten verschafft haben, zumal einige Szenen recht kurzgehalten sind, sodass ein Eintauchen erschwert wird.

Obwohl das Buch den Titel Columbusstraße trägt, muss darauf hingewiesen werden, dass diese zunächst keine Rolle spielt. Klar beginnt die Handlung hier, aber als besonders tritt der Ort nicht in Erscheinung.

Assoziiert man mit diesem Titel Themen wie Nachbarschaft, Idylle, Heimat, lässt sich dies vornehmlich auf Familie Dahmen beziehen, wobei das Gefühl von Verbundenheit beim Lesen ausbleibt.

Auch das Cover wirkt irreführend. Zu sehen ist ein Junge, der durch Trümmer läuft. Über ihm weht eine Hakenkreuzflagge. Aufgrund der kindlichen Figur lässt das Titelbild den Schluss zu, es handele sich um die Geschichte des Nationalsozialismus aus der Perspektive eines Kindes. Dem ist nicht so. Obwohl es sich um Erinnerungen handelt, werden zu viele weitreichende Informationen in die Handlung geflochten, die ein Kind nicht hätte mitbekommen können. Somit haben es die Lesenden vielmehr mit einer auktorialen Erzählperspektive zu tun, was dafür verantwortlich sein könnte, dass das Erzählte sachlich bleibt.

Unterfüttert ist die Geschichte mit Briefen, Fotobeschriftungen, die aufgrund der Schrift und der verwaschenen Tinte original sein könnten, sowie Schriftstücken. Auch hier lässt der Wortlaut vermuten, dass es sich um Originale handeln könnte. Dies trägt zur Authentizität des Erzählten bei. Wer sich dem Quellenverzeichnis am Schluss des Buches widmet, wird seine Vermutungen bestätigt finden. Tobi Dahmen hat somit hervorragende Recherchearbeit betrieben.

Insgesamt aber wirkt das Geschriebene zu viel. Etliche Informationen, große zeitliche Sprünge und viele handelnde Figuren führen dazu, dass eine Identifikation und das Entwickeln von Gefühlen bei der Lektüre ausbleiben.

Aber eine Graphic Novel wäre keine Graphic Novel, handelte es sich nur um das geschriebene Wort. Und nun wird diese Rezension eine Kehrtwende hinlegen:

Das, was Columbusstraße zu einem historischen Erlebnis macht, sind die Illustrationen.

Da das Geschehen in den 1930ern/40ern spielt, sind die Zeichnungen ausschließlich in Schwarz/Weiß gehalten. Hier gibt es eine Abweichung vom Titelbild, welches eher sepiafarben wirkt.

Besonders hervorgehoben hat der Illustrator die Zeit davor und die Zeit danach. Werden zu Beginn noch idyllische Bilder von Vögeln in Nestern, Düsseldorfs Stadtleben oder einem einladenden Kino gezeigt, wandelt sich das Visuelle in ein Bild des Schreckens. Nach und nach wird das Heimelige abgelöst von abgezehrten Gesichtern an der Front, Verstümmelungen, Bombenangriffen, Zerstörung.

Einen weiteren Kontrast fädelt der Autor ein, indem er das Leben auf dem Land dem Leben in der Stadt gegenüberstellt.

Als besonders einträglich bleiben aber vor allem die Bilder im Gedächtnis, denen nur minimal Text beigefügt wurde. Gleich zu Beginn, wenn in die Geschichte eingeführt wird, sehen die Leser*innen eine Fensterscheibe, vor der die Landschaft dahinfliegt. Dicke Regentropfen benetzen die Scheibe. Drei Worte genügen, um alles zu sagen.

Comics haben leider immer noch den Ruf, nur etwas für Kinder zu sein. Dem muss hier deutlich widersprochen werden. Columbusstraße sollte möglichst weit von Kindern bis 14 Jahren ferngehalten werden. Explizite Verstümmelungen und Gewaltakte aufgrund der Kriegsdarstellungen werden bildhaft dokumentiert. Einerseits vermittelt dieser Aspekt die Unsinnigkeit des Krieges, zumal die Leserschaft Familie Dahmen durch die Jahre begleitet. Andererseits schrecken viele Illustrationen ab, wie bspw die Darstellung eines Kopfschusses.

Auch inhaltlich und sprachlich ist die Lektüre nicht für Kinder geeignet, da viel Wissen vorausgesetzt wird.

Fazit

Columbusstraße ist anders als das, was man sich unter dem Titel und dem Cover vorstellt. Hier werden die Leser*innen ein wenig in die Irre geführt, sodass der Gedanke aufkommt, es handele sich um einen Comic für Kinder mit ernster Thematik.

Gleichzeitig überliefert die Graphic Novel so exorbitant viele Informationen, das sie überfordern. Hinzu kommt, dass die Schnitte zu viel und die Handlungen zu unübersichtlich sind.

Die Illustrationen hingegen wirken wie wahre Kunst. Authentisch, mal still, mal grausam, mal laut und bedrohlich. Wer die Zeichnungen sieht, kommt unweigerlich zu der Frage: Hat dieses Kunstwerk überhaupt Text nötig?

  • Autor: Tobi Dahmen
  • Titel: Columbusstraße
  • Verlag: Carlsen Comic
  • Umfang: 528 Seiten
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Erschienen: 29. Mai 2024
  • ISBN: 978-3551796639

Wertung: 11/15 dpt


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