Im Februar 2024 erschien der sechste Gedichtband des in Leipzig lebenden Autors und Verlegers Bertram Reinecke mit dem Titel „Daphne, ich bin wütend“. Nach seiner letzten Veröffentlichung – dem Prosaband „Geschlossene Vorgänge“ (zur Rezension auf Booknerds.de) – hat man den Eindruck, dass Reinecke nun zu seinen Wurzeln zurückkehrt: Man merkt dem schmalen Gedichtband schnell an, wie viel akribische Arbeit in ihm steckt und dass die versammelten Textgespinste über Jahre hinweg gewachsen sein müssen.
„Daphne, ich bin wütend“ beinhaltet Gedichte, bei denen sich ihr Verfasser einer bestimmten Technik verschrieben hat: der Montage. Bertram Reinecke bedient sich vieler Versatzstücke verschiedener Textarten – nicht alle davon sind Kunst – und schafft Neues auf Basis bereits existierender Sätze, Verse und Worte. Auf diese Art entstehen Gedichte mit ganz eigenem Reiz, deren Bedeutung sich vertieft, sobald man nachschlägt, welche Quellen entdeckt, genutzt und neu kombiniert worden sind.
Gemixt werden in den Gedichten nicht nur Verse anderer Dichter*innen, sondern auch verschiedene Gebrauchstexte. Beispielsweise Versatzstücke aus einem alten Parteiprogramm von DIE LINKE, Artikel aus dem Onlinemagazin SPIEGEL oder Zeilen bekannter und weniger bekannter Kirchenlieder. Reinecke kombiniert diese mit (anderen) literarischen Texten, zum Beispiel aus der klassischen Antike. Es entstehen Puzzle-Gedichte, deren Rekombination und neu geschaffener Kontext sinnstiftend wirken.
Hier die zwei ersten Strophen aus „Vasilis, müllsammler“:
Kann ich nicht leben. Deshalb sammle ich müll.
Es ist anstrengend, entwürdigend und natürlich
illegal. Aber es bringt essen auf den tisch.
Viele ehren sind mir schon genommen worden
Von meiner 400-euro-rente
Darüber jammere ich oft – aber was kann ich machen?
Es ist anstrengend, entwürdigend und natürlich
S. 90
Die Verse 1 und 3 der zweiten Strophe stammen aus Phoebe Giannisis „Homerika“ (ersch. bei Reinecke & Voß) und von Sappho, der antiken griechischen Dichterin. Die anderen Passagen fand Reinecke in einem SPIEGEL-Artikel mit dem Namen „Die Müllsammler von Thessaloniki“ (2018).
Die zwei Strophen zeigen Vieles, das beispielhaft ist für Reineckes Gedichte: Zunächst die Originalität seiner Kombinations-Ideen: Hier der Griechenland-Kontext und einen Mix aus einer Stimmer der Heutezeit, einer antiken Dichterin sowie einer aktuellen griechischen Dichterin zu kreieren. (Wobei Giannisi ja antike Texte neu bearbeitet und somit eine Brücke von alt zu zeitgenössisch schlägt.) Das zweite Merkmal, was Reineckes Montagen auszeichnet, ist die präzise Form, die oft dazu führt, den gleichen Versatzstücken in veränderter Kombination neuen Sinn zu geben. Er nutzt dafür Zeilensprünge, wie bei „Es ist anstrengend, entwürdigend und natürlich (illegal).“ So entsteht beim sorgfältigen Lesen eine eigenwillige Komik. Jede Silbe ist bei Reinecke von Bedeutung. Groß- und Kleinschreibung sowie Interpunktion werden stellenweise behutsam angepasst.
Woher die verwendeten Texte stammen, wird akribisch und Zeile für Zeile angeführt: Siglen für einzelne Bücher werden aufgelistet, Register genannt. Leider benötigt manche Erklärung eine Erklärung, einige Fußnoten geben Rätsel auf. Es war allerdings eine gute Entscheidung, die 30 Seiten mit Anmerkungen und Hinweise zu den Quellen gesammelt den Gedichten folgen zu lassen: Wer mag kann diese komplett lesen und dann den Aha-Effekt nachholen, oder sich direkt nach jedem Gedicht Reineckes meist erhellende Anmerkungen dazu zu Gemüte führen.
Positiv hervorzuheben ist auch der sehr angenehm lesbare Satz sowie die Gestaltung des Buches, innen wie außen: Viele Zwischenspiele in flächigem Schwarz versüßen die Lektüre und setzen passende Akzente zwischen den Sektionen. Die Gedichte sind in 7 Kapitel unterteilt und umfassen insgesamt 94 Seiten. Den Anmerkungen folgt noch ein Essay von Bertram Reinecke sowie ein kurzes Nachwort von Jan Kuhlbrodt. In seinem Essay spricht Reinecke über die Machart der Montagen, seine Arbeitsweise und Verständnisschwierigkeiten von Lyrik:
Einiges konnte ich über Lyrik lernen, zum Beispiel, was das erwähnte „Pantum“ ist. Und „Unwohlsein“ hat die Lektüre nicht ausgelöst. Dennoch ging es mir auch so, dass ich das ein oder andere Mal an meinem Anspruch des Verstehen-Wollens scheiterte.
Reineckes Gedichtband verlangt selbstbewusste Leser*innen: Darf gelacht werden? Fehlt mir hier der lyrikgeschichtlicher Hintergrund zum Verständnis? Ist es okay, nicht alle Begleittexte im Band zu lesen? Von solchen Fragen darf man sich das Lektüreerlebnis nicht vergällen lassen. Sonst entgeht den Leser*innen vor lauter Grübelei noch Reineckes subtiler Humor und sein virtuoser Umgang mit Sprache, was sehr schade wäre. Es ist immer wieder erstaunlich, dass sich die Gedichte nie wie Montagen anfühlen. Die lange Arbeit des Suchen, Findens, Rekombinierens merkt man keinem Gedicht an.
Und ja, es gibt verschiedene Lesarten für diesen Gedichtband, der schwer wiegt wie ein Konzentrat. Aber ist Verdichtung nicht ohnehin die Essenz aller Lyrik? Also, nur Mut: Einmal aufgeschlagen, bekommt man das schmale Bändchen vor lauter Staunen nicht mehr aus dem Kopf. Etwas Ähnliches ist mir nie begegnet.
- Autor: Bertram Reinecke
- Titel: Daphne, ich bin wütend
- Band der Reihe: Reihe Neue Lyrik – Band 27, Herausgegeben von Jayne-Ann
Igel, Jan Kuhlbrodt, Kulturstiftung des Freistaates Sachsen - Verlag: poetenladen
- Erschienen: Februar 2024
- Einband: Hardcover mit Schutzumschlag
- Seiten: 164
- ISBN: 978-3-948305-25-3
- Sonstige Informationen:
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Verlag Reinecke & Voß

Wertung: 10/15 dpt