
Für Sunday ist Trifle, ein englischer Nachtisch mit Schichten aus Biskuit, Obst, Pudding, Sahne und Zuckerstreuseln, einfach nur verkehrt, farbig und aufdringlich. Small Talk mit ihren Mitmenschen eine kaum zu bewältigende Herausforderung. Und Gefühle und Mimik anderer sind ein unnachvollziehbares Konstrukt. Sunday ist neurodivergent und benötigt für ihr Leben Rituale, die Hilfe von sizilianischen Legenden und die Regeln eines Gesellschaftsratgebers aus den 1950er Jahren. Gemeinsam lebt sie mit ihrer 16-jährigen Tochter Dolly im englischen Lake District ein sehr geregeltes Leben. Bis neue Nachbarn in das Haus nebenan einziehen und mit Vita die denkbar unkonventionellste, schillerndste Person einfach vor Sundays Tür steht. „Doch in jenem Sommer liebte und lebte ich für ein Vogelherz“, erkennt Sunday später, nachdem sich alles für sie verändert hat.
Vogelherzen, das sind für Sunday die Menschen, die leicht und von allen akzeptiert durchs Leben gehen, aber auch flatterhaft sind und dadurch unaufmerksam für die vielen Details im Leben. Vita und ihr Ehemann sind zwar eine Herausforderung für Sunday – aber die beiden nehmen Sundays Verhältnisweisen unkommentiert hin, diskutieren nicht mit ihr und geben ihr auch nicht – wie es so oft sogar von den eigenen Eltern getan wurde – das Gefühl, mangelhaft zu sein. Die Einladung zum Freitagsdinner bei den Nachbarn wird daher fast zur liebgewonnenen neuen Routine. Deshalb lässt Sunday auch zu, dass ihre Tochter Dolly mehr und mehr in den Bann von Vita gerät. Erst übernachtet die Teenagerin bei den Nachbarn, dann geht sie mit Vita einkaufen, trägt denselben Kleidungsstil, begleitet Vita und Rollo übers Wochenende nach London.
Spätestens hier hat mein Unverständnis für alle angefangen. Warum schreitet Sunday nicht energischer ein, wenn es um ihre junge Tochter geht? Wieso spannt Vita ihr die Tochter aus? Warum ist Dolly so schnell bereit, sich von ihrer Mutter zu distanzieren? Und welche Rolle spielt Ehemann Rollo, der anscheinend weiß, was passiert, aber aus Liebe zu Vita nicht eingreift? Die vielen Schilderungen der immer wiederkehrenden Freitagsdinner, die vielen kleinen Kränkungen, die Sunday immer wieder in Kauf nehmen müssen – das alles wiederholt sich immer wieder. Richtige Erklärungen gibt es nicht. Aber es macht letztendlich Sinn: Viktoria Lloyd-Barlow schreibt den Roman aus Sundays Sicht. Damit sind die Leser:innen aber auch konsequent an ihre Wahrnehmung und ihre Interpretationen gebunden. Die Autorin, selbst Autistin, wollte damit einer neurodivergenten Figur eine eigene authentische autistische Stimme geben. „Sunday fühlt sich sehr akzeptiert von den Nachbarn, sie will an sie glauben“, sagt sie in einem Interview. „Und das blendet sie auch.“
Mich hat streckenweise trotzdem frustriert, zu beobachten, wie die Kluft zwischen Mutter und Tochter immer größer wird. Das Buch hatte für mich durchaus Längen, in denen ich ungeduldig darauf wartete, dass Sunday endlich aktiv wird. Sich nicht alles gefallen lässt, kräftig auf den Tisch haut und sich die Geschichte dadurch schneller entwickelt. Allerdings: Das ist halt mein Tempo und möglicherweise das Tempo von nicht-neurodivergenten Menschen. Für Sunday hingegen sind Menschen, Handlungen und Stimmungen nicht gut und schnell zu deuten. Ihre Schlüsse sind vielleicht anders. Meine Ungeduld ist also letztendlich vielleicht sogar etwas, was Viktoria Lloyd-Barlow ihren Leser:innen vorführen will: Die Wahrnehmung von neurodivergenten Menschen ist anders. Und wenn Sunday ihrer spöttischen Tochter sagt: „Ich mag mein Leben, Dolly“ – dann wird damit deutlich, dass sie keinen Mangel empfindet und keinen Neid auf all die „Normalen“ in ihrer Umgebung. Damit ist sie in dieser Geschichte wohl die Stärkste und Selbstloseste, auch wenn sie im Umgang mit den anderen oftmals den Kürzeren zieht.
Fazit:
„All die kleinen Vogelherzen“ wurde 2023 für den renommierten englischen Booker Prize nominiert und machte damit Viktoria Lloyd-Barlow zur ersten autistischen Person auf der Longlist des Preises. Ein Roman, der mit Ruhe und Sorgfalt gelesen werden muss, denn dann erkennt man in den Wahrnehmungen, Metaphern und Verhaltensweisen der Protagonistin die neurodivergente Perspektive. Und die Autorin hat ihr Ziel erreicht, neurodivergenten Menschen eine eigene und authentische Stimme zu verleihen.
Vielen Dank an den Goya-Verlag für das Rezensionsexemplar.
- Autorin: Viktoria Lloyd-Barlow
- Titel: All die kleinen Vogelherzen
- Originaltitel: All the Little Bird-Hearts
- Übersetzerin: Sabine Längsfeld
- Verlag: Goya
- Erschienen: 10/2024
- Einband: Hardcover
- Seiten: 382
- ISBN: 978-3-8337-4796-0
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