Isabel Bogdan – Wohnverwandtschaften (Buch)

Verwandtschaft muss nicht Familie sein. Verwandtschaft kann auch wachsen – beispielsweise in Wohngemeinschaften, bei denen die unterschiedlichsten Charaktere zusammenwohnen und miteinander klarkommen müssen. In ihrem Roman „Wohnverwandtschaften“ hat Autorin Isabel Bogdan vier Bewohnerinnen und Bewohner unter ein Dach verfrachtet: Jörg, mit 68 Jahren der Senior der Wohngemeinschaft, hat nach dem Tod seiner Frau Brigitte mehrere Zimmer seiner Wohnung vermietet. Zum einen an Murat, einen herzensguten und sehr geselligen Mitbewohner, zum anderen an Anke, eine 53-jährige Schauspielerin, bei der die Aufträge ausbleiben. Schließlich – den Jörg plant eine Reise mit dem eigenen Bulli nach Georgien und braucht eher Geld als Platz – auch an Constanze, eine Zahnärztin, die sich von ihrem Freund Flo getrennt hat und für den Übergang schnell eine Unterkunft gesucht hat. Die Wohngemeinschaft, die mehr als eine Zweckgemeinschaft ist, wird noch enger zusammengeschweißt, als Jörg nach einer OP immer mehr in eine Demenz rutscht und aus den Mitbewohnern zunehmend betreuende Verwandte werden.

Murat, Anke, Constanze und Jörg sind regelrechte Typen, die jeder ihr eigenes Thema – mal deutlicher, mal weniger deutlich – mitbringen. Jörg ist sicherlich dabei im Vordergrund, denn seine Erkrankung ist ein Katalysator, der Bewegung in das WG-Leben bringt. Zunächst läuft seine Demenz noch unter Vergesslichkeit und Schusseligkeit, bis sich die Wahrheit einfach nicht mehr leugnen lässt. Jörg wird unzuverlässiger, orientierungsloser und hilfsbedürftiger, auch wenn er sich das den anderen und auch sich selbst zunächst nicht eingestehen will. Die WG muss zusammenhalten, denn, so sagt es Murat, „Fühlt sich doch längst an wie Familie“. Schauspielerin Anke hat ebenso ihr Päckchen zu tragen: Es gibt keine Rollen für sie, niemand besetzt sie, das Geld wird knapp und die Zukunftsperspektive als Frau bei Film und Fernsehen ist düster. Murat, sonst immer der Gute-Laune-Bär für alle anderen, der Parties macht, positiv durchs Leben geht und für alle kocht, gesteht Constanze immerhin, dass er als Kind im Krankenhaus für seinen krebskranken Vater übersetzen musste, in der Familie – auch nach dem Tod des Vaters – immer alle aufgeheitert hat und für Einkauf und Kochen zuständig war. Als Kind von eingewanderten Migranten hat er also schon früh Verantwortung übernommen. Wofür Constanze steht, ist etwas vage – vielleicht, dass sie aus einer eher weniger betuchten Familie stammt, die mit bescheidenen Träumen auch Constanzes Leben gerne in sehr geregelten Bahnen sehen würden. Anke und Jörg sind aber definitiv diejenigen mit den gewichtigeren Themen.

Aber es bricht einem das Herz, wie er immer weniger er selbst ist.

Isabel Bogdan hat sich bewusst dafür entschieden, keinen der vier Bewohner zur Hauptfigur zu wählen. Stattdessen rücken alle abwechselnd in den Fokus des Betrachters. Dazu erhalten alle immer wieder „Solo-Kapitel“, in denen wir sozusagen in ihren Kopf, in ihre Gedankenwelt einsteigen. Leider ist da auch schon die erste Schwäche, die der Roman mit sich bringt: Wer Isabel Bogdans vorherigen Roman „Laufen“ gelesen hat, wird dieses Mal die Feinheit von Sprache und Rhythmus vermissen. Damals waren Sprache und Handlung – das Laufen der Protagonistin, die damit einen großen Verlust verarbeiten will – eine Einheit. Der innere Monolog folgte den wiederkehrenden, manchmal atemlosen Schritten der Läuferin. In „Wohnverwandtschaften“ ist diese Einheit leider nur selten zustande gekommen: Constanze, Murat, Anke und Jörg erzählen vor sich hin, wer sich wundert, sagt in Gedanken „Boah“ und „Oh“, wer sich anstrengt oder verletzt, denkt „Puh“ und „Autsch“. Wenn Murat zum Beispiel Fußball spielt, schießt ihm „Musste gerade an Constanze denken“ durch den Kopf. Oder „Puh, jetzt bin ich aber ein bisschen schnell gerannt gerade.“ Ein wenig fragt man sich: „Wem erzählen die das eigentlich?“, denn so richtige authentische Gedankenströme sind das eher nicht – aber auch keine direkten Leseransprachen. Eine Ausnahme sind dabei die inneren Monologe, die Jörg führt – denn hier werden auch im Sprachlichen die zunehmenden Gedächtnislücken und Wortfindungsschwierigkeiten deutlich.

Es gibt aber auch Gespräche in wechselnder Besetzung, die wie in einem Drehbuch mit verteilten Rollen wortwörtlich wiedergegeben werden. Hier stehen weniger die Mentalitäten und Charaktere der einzelnen WG’ler im Mittelpunkt als vielmehr das Zusammenspiel zwischen den Beteiligten. Im Podcast „Besser lesen mit dem Falter“ wird Isabel Bogdan gefragt, ob es Pläne dazu gibt, den Roman zu verfilmen oder als Theaterstück aufzuführen – ja, auf ein Theaterstück würde sie hoffen, hat Isabel Bogdan geantwortet. Man habe schließlich vier Figuren und benötige keine 1000 Kulissen, sondern hätte die WG und den Schrebergarten von Murat als Orte. Und sie hat Recht: Dafür würde sich die „Wohnverwandtschaften“ mit ihren so unterschiedlichen Charakteren und den Dialogen und Selbstgesprächen mehr als anbieten. Auf einer Bühne dargestellt, würde ein Theaterstück entstehen, dass die Zuschauer und -hörer definitiv mitnehmen würde.

Fazit:

Es liegt vor allem an Isabel Bogdans sehr gutem und berührendem Vorgänger-Roman „Laufen“, dass „Wohnverwandtschaften“ leider schwächer wirkt. Wer aber unvoreingenommen an ihren neuen Roman herangeht, wird sicherlich weniger Kritikpunkte finden. Das Thema Demenz wird zudem sehr gut und gefühlvoll dargestellt. Über zwei Jahre umfasst die WG-Zeit, die mit Constanzes Einzug beginnt – das Fortschreiten von Jörgs Demenz ist dabei der rote Faden. Die Unsicherheit über den eigenen Verlust von Erinnerungen und Kompetenzen sowie die Unsicherheit von Außenstehenden zum richtigen Umgang mit Demenzkranken ist sehr gut auf den Punkt gebracht.

Wertung: 11/15 dpt

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