Zwei starke Frauen trotzen der Männerwelt und ihrer Zeit

Ella wächst in einem Dorf in Galizien auf und kümmert sich um ihre zehn jüngeren Geschwister. Dann treffen ihre Eltern eine verheerende Entscheidung und Ella landet in einem Bordell, in dem sie sieben Jahre gefangen ist und als Prostituierte arbeiten muss. Eine Flucht kann tödlich enden, sie setzt alles auf eine Karte, entflieht Lemberg, um in Prag ein neues Leben zu starten, doch an einem Bahnhof angekommen, fährt der nächste Zug über Berlin nach Hamburg, wo sie sich in einer Pension ein billiges Zweitbettzimmer leistet und so Louise kennenlernt.
Louise stammt aus reichem Elternhaus und ihr Mann Viktor verwöhnt sie bestens. Über Nacht ist er allerdings verschwunden und Louise muss feststellen, dass sie einem üblen Hochstapler verfallen war. Nicht nur das, jetzt steht sie mittellos auf der Straße, allein mit einem Schuldschein von Viktor, wonach diesem ein Teil einer Kneipe in St. Pauli gehört. Als sie sich die Kaschemme ansieht, wird der Wirt zudringlich und kann nur in letzter Sekunde gebremst werden, wobei ihr ein einarmiger Unbekannter zur Hilfe kommt. Allerdings mit fatalen Folgen, denn bei dem Gerangel stirbt der Wirt.
Paul, ehemals Polizist, sinnt verbittert nach Rache, denn der Kriminelle Hinnerk Macke hatte seine Jugendbande auf ihn angesetzt mit der Folge, dass sein Arm in einer Walze landete und er dadurch nicht nur seine linke Hand verloren hat, sondern zudem seinen Beruf und seine große Liebe namens Marie. Jetzt ist er also auch noch am Tod eines Menschen mitverantwortlich.
Als Louise und Ella zu der Kneipe zurückkehren, stoßen sie auf eine Verfolgungsjagd der Polizei, die einen vermeintlichen Mörder stellen will. Allerdings glaubt Ella keine Sekunde, dass der fliehende Dreizehnjährige namens Joshua der Täter ist und versteckt ihn kurzerhand in der Kaschemme. Bald geht es hoch her in St. Pauli, denn Ella und Louise wissen zunächst nicht, wovon sie leben sollen und ob sie Paul trauen können, was auf Gegenseitigkeit beruht.
Unterhaltsam auch als Kriminalroman
„Elbnächte. Die Lichter über St. Pauli“ ist Auftakt einer Dilogie, die Ende Oktober dieses Jahres mit „Elbnächte. Schatten über St. Pauli“ abgeschlossen wird. Es ist ein unterhaltsamer Mix aus historischem Roman, ordentlich Frauenpower und Kriminalroman. Louise, deren Mann, ein Hochstapler, sie als schmückendes Beiwerk benutzte, trifft auf Ella, die jahrelang ihren Körper verkaufen musste. Nahezu mittellos leben sie in St. Pauli des Jahres 1913, wo Frauen vor allem abends nicht mehr allein unterwegs sein sollten. Sie geraten in eine wilde Geschichte, die weitere Turbulenzen und Verbrechen bereithält. Gut, dass es da wenigstens Principessa gibt, sozusagen die dritte Dame im Bund, eine hinreißende Möpsin (ja, Möpsin, so steht es im Buch). Zu guter Letzt wäre da noch Paul, der verbissen und vergrämt nach Hinnerk sucht, dem er sein zerstörtes Leben zu verdanken hat. Dabei weiß niemand, wer Hinnerk ist oder wie er aussieht. Außerdem, wir wollen es nicht vergessen, bleibt noch die Frage, was eigentlich mit Viktor passiert ist? Ein Fremder überreicht Louise einen Totenschein, demnach ihr Mann bei einem Duell getötet wurde. Der Überbringer der Nachricht wird allerdings kurz darauf selbst Opfer einer Straftat.
Louise und vor allem Ella haben üble Verbrechen am eigenen Leib erlebt, der kleine Joshua ohnehin. Seine Eltern starben bei einem Brand, danach kam er in ein Waisenhaus und später zu der Kinderbande von Hinnerk. Dies alles erzählt Henrike Engel sehr einfühlsam, es menschelt reichlich, allerdings bleibt das Grauen stets im Ungefähren. Explizit wird es nie, allein die Gedanken der Leser lassen womöglich schreckliche Szenen in deren Köpfen entstehen. Wer es gerne „blutarm“ mag, ist hier richtig. Die Autorin setzt auf Gefühle, gerade Ella wird – trotz ihrer Vergangenheit – zu einem wahren Empathiemonster, worauf allerdings auffällig oft verwiesen wird.
Zwei starke Frauen kämpfen sich durch eine böse Männerwelt. Ein bekanntes Setting, welches hier erneut zum Leben erweckt wird. Gut, wenngleich man etwas mehr Tiefgang hätte wagen können. Sicher, man muss nicht jedes widerliche Verbrechen im Detail vorführen, aber ein bisschen mehr zur gesellschaftlichen, sozialen und vielleicht auch politischen Situation im Jahr 1913 wäre schön gewesen. So bleibt ein gefühlträchtiges Leseerlebnis mit spannender Unterhaltung, bei der einige Fragen für den zweiten Teil naturgemäß offenbleiben.
- Autorin: Henrike Engel
- Titel: Elbnächte. Die Lichter über St. Pauli
- Verlag: Ullstein
- Umfang: 400 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: März 2025
- ISBN: 978-3864932632
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Wertung: 11/15 dpt