Jerry ist ein netter Kerl, freundlich, fröhlich und sieht aus wie Ryan Reynolds. Vielleicht ist er ein bisschen zu freundlich und fröhlich, schafft sich eine quietschbunte Welt, in der er Ryan Reynolds sein darf. Wie er das schafft? Auf seine Tabletten verzichten, zur Psychotherapeutin dackeln und erzählen, was sie hören möchte. Und natürlich in der Haut von Ryan Reynolds stecken, dem man den sympathischen Burschen mit heftiger mentaler Desorientierung (bipolarer Störung) spielend abnimmt.
Jerry lebt in der Kleinstadt Milton, einer mit rosa Zuckerguss überzogenen Puppenstubenausgabe von Twin Peaks, wohnt relativ kärglich über einer stillgelegten Bowling-Bahn und arbeitet in einem lokalen Unternehmen, wo er Badewannen verpackt und zum Versand vorbereitet. Sein Chef lobt ihn wegen seiner Arbeitsmoral und positiven Kollegialität. Er darf sogar das Betriebsfest mitgestalten. Eine Aufgabe, die Jerry so ernst nimmt wie alles in seinem Leben. Er ist ein lauterer Charakter, dem Arges fremd ist. Jerry spricht gerne mit seinem Hund Bosco und dem Kater Mr. Whiskers. Das unterscheidet ihn nicht von vielen anderen Menschen, die Haustiere besitzen. Wohl aber, dass seine beiden Hausgenossen ihm antworten. Der gutmütige Bosco möchte, dass Jerry ein unauffälliges, geregeltes Leben führt und seine Tabletten nimmt, während der hedonistische Mr. Whiskers meint, er solle tun, worauf er Lust hat, ohne Rücksicht auf Verluste und mit komplettem Pillenverzicht.
An erster Stelle steht, die Nähe Fionas zu suchen, der forschen Engländerin, die es in die Buchhaltung der Firma verschlagen hat. Doch sie geht dem übertrieben agierenden, verschrobenen Kerl lieber aus dem Weg. Ihre Kollegin Lisa würde zugreifen, doch für die hat Jerry zunächst kein Auge. Es kommt wie es kommen muss; Fiona versetzt den verliebten und unbedarften Jerry, der aber eine zweite Chance bekommt. Ein Zufall macht die junge Engländerin zu seiner nächtlichen Beifahrerin. Dummerweise kostet ein Unfall erst einen Hirsch und dann Fiona das Leben. Dank Jerrys gnädiger Mithilfe.
Fionas Kopf landet im Kühlschrank, ihr zerstückelter Körper in Tupperware-Boxen. Es dauert nicht lange und der kommunikative Schopf beginnt sich zu langweilen. Also müssen weitere kluge Köpfe her. Jerry kann gar nicht anders als für Zuwachs zu sorgen. Bosco ist besorgt um Jerrys geistigen Zustand, Mr. Whiskers befeuert ihn. Gelegentlich setzt sich der wohlmeinende Bosco durch, und Jerry versucht sich und sein Leben in den Griff zu bekommen. Er nimmt seine Medikamente, nur um festzustellen, dass er in einem vermüllten, nach Tierkot und Verfall stinkenden Apartment wohnt, in dem Fionas stummes Haupt vor sich hin verwest. Als ihn zusätzlich noch Flashbacks aus seiner düsteren Familiengeschichte peinigen, flüchtet Jerry schnell wieder in seine tablettenfreie, versöhnliche Phantasiesphäre, in der Gestank und Verwesung nicht vorkommen. Die reale Welt lässt sich aber nicht beliebig ausblenden und schlägt gnadenlos zurück.
“The Voices” war ein finanzieller Flop, nicht nur wegen des raren Kinoeinsatzes (das weltweite Einspielergebnis überstieg kaum zwei Millionen Dollar). Die Auswertung für Daheim bietet zwar eine liebevolle und reichhaltige Aufmachung, doch den ersten Bewertungen nach, zieht das Publikum sehr gemischte Schlüsse aus der Filmsichtung. Ryan Reynolds, nach dem “Green Lantern”-Debakel und dem ebenfalls die Produktionskosten von rund 130 Millionen Dollar nicht einmal annähernd einspielenden “R.I.P.D.” hat das Emblem “Kassengift” quasi auf die Stirn getackert. Von der Qualität seiner schauspielerischen Leistungen her zu Unrecht (gut, die fallen weder bei der grünen Laterne noch der jenseitigen Polizeiinspektion ins Gewicht). Zudem sieht es im Moment ganz danach aus, wenn der Film hält, was der Trailer verspricht, das “Deadpool” den engagierten Mimen aus dem Tal der Tränen wieder hervorkatapultieren wird.
Gut, die lahme ich-wäre-so-gerne-Men-In-Black-Sause “R.I.P.D”. ist trotz Jeff Bridges-Beteiligung nicht so der Knaller, aber im gering budgetierten (und recht erfolgreichen) “Buried” bot Reynolds eine schauspielerische Tour De Force, die sich gewaschen hat. Ähnliches geschieht in “The Voices”. Reynolds bekommt seine überkandidelte Figur wunderbar hin, er hält die Waage zwischen sympathischem Sonderling und zwiegespaltenem Mörder perfekt. Seine Rolle hätte leicht zur kompletten Karikatur veröden können, doch bei aller Plakativität reißt’s Reynolds weitgehend raus, weil er seinem Affen eben nicht den besonders aufputschenden Jack-Nicholson-im-Shining-Modus-Zucker gibt, sondern Jerry als nachdenklichen und durchaus um seine mentalen Defizite wissenden Alltagsmenschen anlegt.
Unterstützt wird er von den traumhaften Kolleginnen Gemma Arterton (ziemlich kopflastig) und Anna Kendrick (verliebt, geerdet, sympathisch). Die eine als Petticoat Queen, deren Egoismus ihr zum Verhängnis wird, die andere als resolut-romantische Kumpanin, die einfach das Pech hat, zu findig zu sein.
Darstellerisch und visuell ist “The Voices” ein kleines Fest, dessen Ausrichterin es mit den Girlanden und dem Zierrat leider übertrieben hat. Die Spezialeffekte schwächeln ebenfalls leicht. Während die Sprachanimationen von Bosco und Mr. Whiskers unauffällig, aber keineswegs prickelnd sind, ist der um Sterbehilfe flehende Hirsch auf Jerrys Motorhaube ein eher peinliches Mitglied seiner künstlich/digitalen Zunft. Kann man mit leben, denn eigentlich ist diese Sequenz sinnbildlich für den gesamten Film: Es ist mild makaber und blutig, täuscht emotionale Tiefe vor und bleibt irgendwo in der Mitte hängen. Absurde Komik wird verfehlt, weil die entsprechenden Pointen ausbleiben, tränentreibende Tragik kann in der Aura von kunterbunten Oberflächenreizen gar nicht entstehen. Ein bisschen Effekthascherei und Hall im Soundgefüge schafft nicht zwangsläufig eine nachhaltige Wirkung.
So ist der komplette Film. Für eine schwarzhumorige Komödie mangelt es an schmerzenden Gags, für ein psychologisches Drama fehlt es an inhaltlicher Tiefe und Ausarbeitung, für einen Psycho-Thriller ist “The Voices” nicht spannend genug und für ein Musical wird nicht genug getanzt (die wenigen Tanzszenen sind aber nett anzuschauen).
Als Mixtur aus alldem ist der Film allerdings eine ansehnliche, zu keiner Sekunde langweilende und vor allem ziemlich einmalige Angelegenheit. “The Voices” ist ein faszinierendes Dokument des Scheiterns. Gutaufgelegte Darsteller, eindrückliche Fotografie, Gestaltungswillen bis zum Zerbrechen. Wunderbare Szene: Drei rosafarbene Gabelstapler bauen ein Pyramide aus verpackten Badewannen, jedes Paket sauber versehen mit pinkem Klebeband. Feine Choreographie, stimmiges Symbol für eine entfremdete, nur visuell austarierte Arbeitswelt.
Marjane Satrapi (“Persepolis”) gelingt, trotz augenscheinlich ernsthaftem Anliegen und Wissen ums eigene Tun, leider “nur” ein unausgewogenes Etwas von Film, das so disparat, unbedarft und freimütig daherkommt, dass man es in seiner Unvollkommenheit, die wie ihre Hauptfigur überall aneckt, einfach mögen muss. Lieben wäre zu viel, mögen ist genau richtig.
So sieht’s aus: “Tut mir leid, wenn ich dir weh getan habe! Das war echt unglücklich. Hast du Schmerzen?”
Cover und Fotos © Ascot Elite
- Titel: The Voices
- Originaltitel: The Voices
- Produktionsland und -jahr: USA, Deutschland 2014
- Genre: Komödie, Drama, Psycho-Thriller, Musical
Erschienen: 06.10.2015 - Label: Ascot Elite Home Entertainment
- Spielzeit:
101 Minuten auf 1 DVD
105 Minuten auf 1 Blu-Ray - Darsteller:
Ryan Reynolds
Gemma Arterton
Anna Kendrick
Jackie Weaver - Regie: Marjane Satrapi
- Drehbuch: Michael R. Perry
- Kamera: Maxime Alexandre
- Musik: Oliver Bernet
- Extras: Audiodeskription für Sehbehinderte
Orignaltrailer, Featurettes, Kinospots, B-Roll, Trailershow - Technische Details (DVD)
Video: 2.39:1 / 16:9
Sprachen/Ton: Deutsch, Dolby Digital 5.1, Englisch, Dolby Digital 5.1
Untertitel: Deutsch, Deutsch für Hörgeschädigte
- Technische Details (Blu-Ray)
Video: 2.39:1 / 16:9 – 1080 / 24p HD
Sprachen/Ton: Deutsch, DTS-HD Master Audio 5.1, Englisch, DTS-HD Master Audio 5.1
Untertitel: Deutsch, Deutsch für Hörgeschädigte
- FSK: 16
- Sonstige Informationen:
Filminfos und Erwerbsmöglichkeiten @ Ascot Elite
Wertung: 10/15 Voices in my Head