“Hammelzauber” ist ein Regio-Krimi der anderen Art, beziehungsweise einer, in dem der Begriff Region tatsächlich eine zentrale Rolle spielt. Ein Vierteljahrhundert in der Zukunft gilt ein Bereich mit einem Radius von fünfzig Kilometern um das Kernkraftwerk Cattenom herum als radioaktiv kontaminiert. Nach einem jener ‚Zwischenfälle‘, die eilfertige Politiker normalerweise gerne zum harmlosen Missgeschick herunterspielen. Diesmal musste man sich den belasteten Tatsachen aber stellen und den verstrahlten Kreis von erst zwanzig, über (an Fukushima angelehnte) dreißig, auf fünfzig Kilometer erweitern.
Am Rand der gesperrten Zone befindet sich der kleine Ort Primstal. Zwar zu stark belastet, nicht nur der Windverhältnisse wegen, entscheiden findige Gremien, dass man irgendwo Grenzen ziehen muss. Außerdem gilt die Primstaler Bevölkerung als überaltert; da stirbt es sich, nach ausgezahlter Entschädigung, doch gleich nochmal so gut. Eher früher als später. Bis dahin erlauben Gesundheitszentrum, eine Mensa und zahlreiche ausländische Pflegekräfte, gerne, nicht ohne Anerkennung “Pflegeneger” genannt, ein behagliches Dasein.
Einmal im Jahr findet die legendäre Primstaler Kirmes statt, eine über mehrere Tage dauernde Festivität mit diversen Events und verstärktem “Hammelzauber”-trinken, dessen eigenwilliges Rezept im Anhang des Buches zu finden ist.
Die Kirmes des Jahres 2040 steht allerdings im Schatten des Verbrechens, eigentlich derer zwölf, angefangen bei Fischfrevel, reicht es über versuchte Vergewaltigung, schwere Körperverletzung bis hin zum “ungeklärten Todesfall mit Leichenschändung”. Justus Houbchib, genannt “Jus”, ist so etwas wie der Chronist des Dorfes, ein ehemaliger Finanzbeamter, Krimischreiber und genauer Beobachter. Er assistiert der ortsfremden Kriminalhauptkommissarin Paula Lück, die angereist ist, um das Dutzend mehr oder minder schwerer Straftaten aufzuklären. Mehr dirigiert als assistiert wird sie von Jus dazu überredet alle Fälle als ein zusammenhängendes Verbrechen zu sehen. Es wird eine Weile dauern, bis Lück die Sichtweise des alten, todkranken Mannes akzeptiert. Doch dann ist sie bereit für einige Überraschungen, das Schließen offener Geschichtsbücher, Karriere und möglicherweise eine Liebesbeziehung, die sie über den Roman hinaus an Primstal binden wird.
Was auf den ersten Blick eine gemütvolle Provinzposse in der Nähe halbgarer Gemüsekomik á la Rita Falk zu sein scheint, entpuppt sich bereits auf den ersten Seiten als etwas ganz anderes. Eine in gar nicht allzu weit entfernter Zukunft angesiedelte Dystopie, die Geschichten voller Trauer sowie Ängsten vor Verlust und Tod mit teils groteskem, teils sanftem Witz vereint, die das Leben am Rande der Katastrophe erträglicher machen.
Teile des Saarlands, Belgiens, Frankreichs und fast das komplette Luxemburg sind unbewohnbar geworden, der Rest ist zum freundlich überwachten Gesundheitswesen mutiert. Die deutsche Bevölkerung zumindest muss sogenannte Gesundheitsarmbänder tragen, die beständig über sämtliche Körperfunktionen Auskunft geben und ab einem bestimmten Alter nicht mehr abgelegt werden dürfen. Der medizinischen Vorsorge und Versorgung wegen. Dass die Daten jederzeit anderweitig genutzt werden können und dürfen, ist ein kleiner Nebeneffekt. Wer wird, vor allem im Rahmen der Kriminalitätsbekämpfung, etwas dagegen einzuwenden haben? Niemand, oder?
Frank P. Mayer fabuliert mit Wonne, lässt seine betagten Protagonisten Anekdötchen, Geschichten und Witze erzählen, kleine Herausforderungen bewältigen und bescheidene Abenteuer erleben. Ein Höhepunkt ist das Nexischberg–Spektakel, im schnellen Mobilator-Lauf (bis zu fünfeinhalb Stundenkilometern) von beiden Seiten den Berg hinauf. Mit Crash und Sieger-Taktik.
Es finden sich weitere Preziosen, spannende, komische und traurige. Doch leider auch redundante und sich wiederholende Passagen, die zwar nah am Lebensalltag im Umfeld eines Seniorenwohnheims fußen mögen, aber die Lektüre zeitweise recht zäh werden lassen.
Doch dies zu überstehen lohnt sich, denn hinter all den Episoden verbirgt sich eine konsequente, anrührende und weitgehend spannende Aufarbeitung von Vergangenheit, in der besonders die Erinnerung an tragische Fehlentscheidungen und deren Folgen eine gewichtige Rolle spielt. So wird zwar nicht für ausgleichende Gerechtigkeit gesorgt, was eh kaum möglich wäre am Ende des Lebens, sondern ein Kampf gegen das Vergessen ausgefochten. Einige erstaunliche Erkenntnisse und die spielerische Überwindung rassistischer Vorurteile inklusive.
Cover © Conte Verlag
- Autor: Frank P. Meyer
- Titel: Hammelzauber
- Verlag: Conte Verlag
- Erschienen: 01.03.2016
- Einband: Hardcover/Leinen
- Seiten: 456
- ISBN: 978-3-95602-087-2
- ISBN: 978-3-95602-102-2 (E-Book)
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 11/15 Hammelzaubern in einer lauen Kirmesnacht