Geheimnisse der Gegenwart und Vergangenheit
Nach eigenwilligen Eskapaden bekommt Gereon Rath von seinem Chef bei der Mordkommission nur noch Fälle zugeteilt, die keiner haben will. In „Marlow“ ist es die Ermittlung in einem tödlichen Autounfall. Ein Taxifahrer und sein Fahrgast kommen um, als der Wagen ungebremst in eine Mauer rast. Nachdem der Leichenbeschauer einen tödlichen Gehirntumor im Kopf des Kraftdroschkenführers gefunden hat, könnte man den Fall zu den Akten legen. Wenn der Fahrgast Gerhard Brunner nicht Angehöriger der SS wäre, ein bizarres Doppelleben geführt und brisante Akten über Hermann Göring bei sich getragen hätte. Gereon Raths Eigensinn und Neugier verleiten ihn dazu, in diese streng geheimen Papiere einen verbotenen Blick zu werfen. Was fatale Folgen hat.
Charly Rath arbeitet als Ermittlerin in der Detektei ihres ehemaligen Chefs bei der Polizei Wilhelm Böhm. Vermeintlich untreuen Ehefrauen hinterher zu spionieren, ist nicht das, was sie beruflich erfüllt. Sie wollte Anwältin werden, doch im Nazi-Deutschland dürfen Frauen diesen Beruf nicht ausüben. Gleichwohl bearbeitet Böhm Fälle, die Charly interessieren: alte Fälle, die Böhm in seiner Zeit als Kommissar nicht lösen konnte. Mit Hilfe von Gereon Rath spürt er eine Verbindung zwischen einem Fall von 1927 und dem aktuellen Taxiunfall auf. Vor seiner Mitarbeiterin verbirgt Böhm seine Erkenntnisse, denn die steckt mittendrin in diesem Komplott aus Bandenkriminalität und Rechtsvereitelung. Ein Verhängnis das beiden Raths auf unterschiedliche Weise gefährlich wird.
Rath schreitet blindlings voran, ein anderer schaut aufmerksam zurück
Die Gereon Rath Krimis haben mit der TV-Serie „Babylon Berlin“ einen Popularitätsschub erhalten. Zwar richtet sich diese nur sehr grob nach der Handlung der Bücher, trifft aber ebenso wie die Vorlage den Puls der Zeit. Zumindest in der Art, wie ihn sich die Nachfolgegenerationen vorstellen.
Mehr als in der TV-Serie ist in den Romanen der Krimi-Plot ein zentraler Bestandteil, der sich in den historischen Hintergrund einfügt. In „Marlow“ sind es gleich mehrere. Glücklicherweise, denn der Fall um den Taxiunfall ist denkbar schwach konstruiert. Das liegt zum einen an der absurden Mordmethode, die die Rezensentin nicht näher ausführt, um Spoiler zu vermeiden. Allerdings wundert sie sich jetzt noch, dass dem Autor keine weniger zufallsabhängige Vorgehensweise einfiel. Dazu kommt, dass Gereon Rath, dessen unkonventionelle Ermittlungsmethoden der geneigte Leser bereits kennt, in „Marlow“ den Bogen überspannt. Im siebten Band tut er alles dafür, um aus dem Polizeidienst entfernt und selbst als Verbrecher überführt zu werden. Bewegten sich die Aktionen Gereon Raths bisher bisweilen am Rande der Glaubwürdigkeit, so wurde hier die rote Linie überschritten.
Zu den Highlights des Romans gehört ein unbekannter Erzähler, der einen Teil seiner Lebensgeschichte in der zweiten Person schildert. Schnell ist klar, um wen es sich handelt, was aber dem Reiz dieser Geschichte keinen Abbruch tut. Denn der liegt darin, dass die LeserIn die Geschehnisse durch die Augen des Protagonisten sieht und sich entsprechend mit ihm identifiziert. Und die bestehende Einschätzung des vertrauten Charakters hinterfragt.
„Wenn sie jetzt ganz unverhohlen wieder Nazi-Lieder johlen,[..] Sage nein!“ Konstantin Wecker 1993
Das Thema Selbsttäuschung vertieft der Autor am Beispiel der Hauptfigur. Der beharrlich die politische Parteiergreifung verweigernde Gereon Rath sieht sich mit ausgestrecktem Arm „Heil!“ skandierend dem Führer zujubeln beim Nürnberger Reichsparteitag. Gereon Rath bewegt sich auf den braunen Treibsand zu und wird sich bald für die eine oder andere Richtung entscheiden müssen.
Eigentlich ist Charly in „Marlow“ die Figur, die die entscheidenden Akzente setzt. Sie stellt sich klar auf die Seite der Gerechtigkeit, hilft Frauen despotischen Ehemännern zu entkommen, oder Juden Deutschland zu verlassen. Ähnlich wie ihr Ehemann hat auch Charly die Konsequenzen ihrer Handlungen längst nicht mehr im Griff. Anders als Gereon ist sie sich dessen allerdings bewusst.
Scheitern Gereon und Charlie an nicht zu vereinbarenden Lebenszielen?
Das ist die Frage, die sich in den kommenden Romanen stellen wird. Denn Gereon gerät immer tiefer in den Sumpf der Verbrecher, auch jenen, die die Regierung führen. Charlie mausert sich zu einer ihrer entschlossensten Gegnerinnen
Der siebte Gereon Rath Band „Marlow” schwächelt in den Details der Fallentwicklung und – ermittlung. Wie Volker Kutscher am Ende die verschiedenen Verbrechen zu einer höchst brisanten politischen Intrige entfaltet, ist allerdings äußerst spannend und einfallsreich. Weitere Stärken des Romans sind die Charakterisierung des Zeitgeists und die multiperspektivische Betrachtung dessen, was wir als „Gut“ oder „Böse“ bewerten.
Cover © Piper
- Autor: Volker Kutscher
- Titel: Marlow
- Teil/Band der Reihe: Band 7 der Gereon Rath Reihe
- Verlag: Piper
- Erschienen: 10/2018
- Einband: Hardcover
- Seiten: 528
- ISBN: 978-3-492-05594-9
- Sonstige Informationen:
Produktseite beim Piper-Verlag
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Wertung: 11/15 streng geheimen Akten