Unsichtbares sichtbar gemacht
„Streulicht“ ist die Geschichte einer Außenseiterin. Einer, die nicht dazu gehört, weil man sie nicht dazugehören lässt. Einer, die den Platz, den man ihr zuweist, jedoch nicht annehmen will und darum ihren Ausweg sucht.
Der Roman beginnt ganz in der Tradition des klassischen Entwicklungsromans: Die Ich-Erzählerin erinnert sich anlässlich eines Heimatbesuches an ihre Kindheit und Jugend.
Alles spricht gegen sie: Die Arbeiterschichtzugehörigkeit des Vaters. Der Migrationshintergrund der Mutter. Das Misstrauen des vom Leben überforderten Vaters gegenüber jedem, der sozial höher gestellt ist. Seine Alkoholprobleme, die das Familienleben erschüttern. Die Eltern, die es sich zum Überlebensmotto gemacht haben, möglichst nicht aufzufallen, um mit ihren Unzulänglichkeiten keinen Ärger zu erregen, erziehen auch die Tochter dazu, sich möglichst still und unauffällig zu verhalten. Probleme, das wird ihr vermittelt, gehören geheim gehalten, als seien diese eine persönliche Schuld.
Das Schuld-Prinzip herrscht auch in der Schule. Die Schülerin, die mit ihren Leistungen zurück bleibt, wird dafür selbst verantwortlich gemacht. Niemandem fällt ein, die Ursachen dafür in ihrem Umfeld zu suchen.
Ohde entmystifiziert schonungslos das Märchen der Chancengleichheit, indem sie die strukturellen Schwächen des Systems aufdeckt. Eines Systems, das von vorneherein darauf ausgerichtet ist, die bestehenden Ungleichheiten zu manifestieren.
Ständig wird die Protagonistin kleingehalten. Ohde offenbart einen Rassismus, der so tief in den Menschen verwurzelt ist, dass sogar die Betroffenen selbst, diesen für gerechtfertigt halten. Die Diskriminierung, zeigt sie uns, ist so selbstverständlich im Alltäglichen verwurzelt, dass sie unsichtbar und dadurch unantastbar erscheint.
Anders als in den üblichen Entwicklungsromanen, die uns eine Erfolgsstory präsentieren, bleibt hier das mögliche Scheitern der Heldin immer präsent. Das ‚Ich‘ zu befreien bedeutet auch das ‚Ich‘ zu erkennen. So sehr sich Ohdes Heldin auch bemüht, ihre Identität kann sie nicht abschütteln. Der Ort, der für ihre Herkunft steht, bleibt an ihr haften.
Ohdes Debüt imponiert vor allem durch seinen einzigartigen Erzählstil. Sie schreibt ohne eine Distanz herzustellen zwischen den äußeren Fakten und den Emotionen ihrer namenlos bleibenden Ich-Erzählerin. Der Bericht, den uns diese Stimme liefert ist bedrückend. Ein konstantes Gefühl von Enge und Hilflosigkeit liegt wie ein Schmutzfilm auf der gesamten Erzählung.
Es ist grandios, wie Ohde das Unsichtbare sichtbar macht, ohne dabei plakativ zu werden. Das Licht, mit dem die Autorin die Ereignisse freilegt, bleibt diffus. In den Zwischenräumen ihrer Erinnerungen spürt die Protagonistin Gründe auf, die die strukturelle Diskriminierung verursachen. Ohde überlässt die Wertung uns, den Leser*innen. So wird ihr Roman zu einem einen Spiegel, der uns zwingt, der Universalität des Beschriebenen nachzuspüren. Große Leseempfehlung!
Deniz Ohde wurde für diesen Debütroman mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Unter anderem stand „Streulicht“ 2020 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.
- Autor: Deniz Ohde
- Titel: Streulicht
- Verlag: Suhrkamp Verlag
- Umfang: 284 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: Oktober 2021
- ISBN: 978-3518471746
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Wertung: 14/15 dpt