Samira Sedira – Wenn unsere Welt zerspringt (Buch)
Ein freundlicher Nachbar sieht rot
Carmac ist ein abgelegenes Bergdorf in Frankreich. Wer hier lebt, genießt die Natur und die Ruhe. Dies gilt auch für Anna und ihren Lebensgefährten Constant Guillot, die mit ihren beiden Töchtern ein beschauliches Leben führen. Dabei hätte alles anders kommen können, denn Constant war einst ein talentierter Sportler, eine Profikarriere schien die logische Folge zu sein. Diese fand allerdings ein jähes Ende nach einem schrecklichen Trainingssturz, der ihn für Monate in ein Krankenhaus führte.
Im Juli 2015 heiraten Simon und Lucie, ein befreundetes Paar aus dem Dorf. Es wird ein großes, ausuferndes Fest, an dessen Ende auch Sylvia und Bakary Langlois erscheinen; die künftigen Nachbarn von Anna und Constant. Wenige Monate später ist das zweistöckige Chalet, das prunkvollste der gesamten Region, fertig und die Nachbarn ziehen mit ihren drei Kindern ein. Bakary, ein aus ärmsten Verhältnissen stammender Mann aus Gabun, wurde als Kind zur Adoption freigegeben und hat sich inzwischen zum erfolgreichen Unternehmer gesteigert. Lucien und Léon, den beiden Alten des Dorfes, ist der „Schwarze“ suspekt, kennen sie dunkelhäutige Menschen doch ausschließlich aus dem Algerienkrieg; der einzige Anlass, warum sie Carmac jemals verließen. Damals dienten noch die Schwarzen den Weißen. So ändern sich die Zeiten.
Anna und Constant sind beeindruckt vom Luxus und der Lebensfreude ihrer Nachbarn und werden bald enge Freunde. Diese Freundschaft erfährt jedoch einen ersten Dämpfer als sich Anna anbietet, für die Familie Langlois als Putzfrau zu arbeiten. Eine Demütigung, empfindet Constant, der zu seinem Freund Bakary zunehmend auf Distanz geht.
Einige Monate später wird Constant die fünfköpfige Familie ermorden.
Verständnis für einen Mehrfachmörder? Was wusste die Frau an seiner Seite?
Samira Sedira erzählt die Geschichte von Constant, der sich von einem freundlichen Dorfbewohner zu einem Fünffachmörder entwickelt aus der Perspektive von Anna, die sich in einem unerwiderten Gespräch an ihre einstige große Liebe wendet. Zunächst wechseln sich die damaligen Ereignisse und deren Vorgeschichte mit jener Gerichtsverhandlung ab, an deren Ende – wenig überraschend – eine lebenslange Haftstrafe stehen wird. Doch es bleiben Fragen: Wie konnte es soweit kommen? Hatte Anna nichts von der Entwicklung ihres Lebensgefährten mitbekommen, der in den letzten Wochen und Monaten vor der grausamen Tat immer aggressiver wurde, wenn es um seinen Nachbarn Bakary ging? Hätte sie gar die Tat verhindert können?
Mit sensibler und empathischer Schreibweise führt die Autorin in die Köpfe und Gedankengänge der beiden Protagonisten ein, wobei schnell klar wird, dass die Grenzen zwischen Gut und Böse nicht immer so klar sind, wie es zunächst den Anschein hat. Mag man zunächst noch glauben, dass Constant seinen Nachbarn, den er in vermeidlich unbeobachteten Momenten abfällig als „Nigger“ bezeichnet, vor allem seinen Wohlstand neidet, gepaart mit einem unterschwelligen Rassismus, so stellt sich im weiteren Verlauf heraus, dass der Tropfen, der das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen brachte, von Bakary selbst ausging. Denn auch hier treffen Sein und Schein aufeinander und legen das Geheimnis um den angeblich so erfolgreichen Geschäftsmann offen.
„Wenn unsere Welt zerspringt“ ist eine kurze Erzählung, keine 180 Seiten umfassend und bringt dennoch eine Fülle an Themen teils mit sehr feinen Nuancen unter. Man kann das Buch somit unter verschiedenen Aspekten lesen. Am Ehesten wohl als Tragödie, als Krimi trotz der Morde eher weniger. Sicher ist eins; man sollte es genießen, denn trotz der höchst unappetitlichen Ausgangslage, dem brutalen Auslöschen einer ganzen Familie, ist das vorliegende Werk große Literatur.
- Autorin: Samira Sedira
- Titel: Wenn unsere Welt zerspringt
- Originaltitel: Des gens comme eux. Aus dem Französischen von Alexandra Baisch
- Verlag: Piper
- Umfang: 176 Seiten
- Einband: Hardcover
- Erschienen: März 2022
- ISBN: 978-3-492-07101-7
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Wertung: 12/15 dpt