Frank Rudkoffsky – Mittnachtstraße (Buch)


(K)ein Alltagsroman

Rudkoffkys Titelfigur Malte ist ein Alltagsheld, mit dem man sich gut identifizieren kann: Mitte vierzig, zwei Kinder, verheiratet, mit durchschnittlich ausgeprägtem Ökogewissen, welches er dadurch beruhigt, dass er grün wählt und hybrid fährt. Geografisch platziert ihn Autor Rudkoffsky direkt ins gesellschaftliche Mittelfeld einer Stuttgarter Vorstadtsiedlung.
Auch Maltes Alltagsprobleme wirken wie die vieler Menschen: Eine etwas in die Jahre gekommene Ehe mit den üblichen Ermüdungserscheinungen, ein Teenie-Sohn mit Teenie-Gehabe und eine Kleinkindtochter mit Trotzattacken. Hinzu kommen die Auswirkungen der Corona-Pandemie, die den freiberuflich zu Hause arbeitenden Journalisten Malte im Lockdown besonders zusetzten. Kinderbetreuung und Homeschooling lasten größtenteils auf seinen Schultern. Die Wirtschaftslage ist mies, Malte kämpft hart um jeden Auftrag, damit er den mittelständischen Wohlstand seiner Familie bewahren kann. Denn Malte will vor allem Eines: Er will seinen Kindern ein guter Vater sein. Nie will er so werden wie sein eigener Vater, dem er eine unglückliche Kindheit verdankt. Doch es ist nicht einfach für Malte das väterliche Erbe abzuschütteln. Es kostet ihn viel Kraft seinen in Stressmomenten immer wieder explodierenden Jähzorn zu bändigen, den er eindeutig von seinem alten Herrn geerbt hat.

„Mit derselben Intensität rauschten längst auch wieder die Stresshormone durch Malte; wie oft in den letzten Monate vergifteten sie plötzlich seine Gedanken und verengten seinen Blick, drohten ihm die Kontrolle zu entreißen. Er atmete tief ein und stieß auf einen Widerstand in seiner Brust, fast wie eine imaginäre Delle. Normalerweise hätte er jetzt einen Schrei fahren lassen, gegen das Lenkrad gehämmert, etwas durchs Autor gepfeffert – ganz gleich, ob seine Kinder auf der Rückbank saßen oder nicht. Und das war ja das eigentliche Problem: Die Wut verschwand meist schon nach Minuten. Aber die Scham blieb für Stunden.“
Seite 18/18

Als just dieser Vater nach Jahren der Funkstille unerwartet vor der Tür steht, gerät Maltes mühsam erworbenes Gleichgewicht stark ins Wanken. Und als der Vater dann auch noch erkrankt und Hilfe benötigt, wird Malte plötzlich mit seiner gut verdrängten Vergangenheit konfrontiert.

Rudkoffsky hat seinen Roman um sehr universelle Fragen herum gebaut:
Wie stark sind wir durch unsere Eltern geprägt? Wie gelingt es, die Fehler der vorherigen Generation zu überwinden? Kann man überhaupt besser werden als sie? Und – ist es richtig, den Eltern immer nur die Schuld zu geben? Denn waren nicht auch sie Kinder ihrer Zeit, die versuchten das Beste aus ihrer Situation zu machen? Grundsätzliche Fragen, die Rudkoffsky mit seiner Hauptfigur Malte in den sehr konkreten Kontext gesellschaftlicher Anforderungen unserer Zeit stellt.
Gleichberechtigung, Diversität, fehlende Anerkennung von Care-Arbeit, Klimaschutz sind nur einige dieser aktuellen Themen, die im Roman als Hintergrundgeräusch onmipräsent sind.

Malte ist ein aufgeklärter Mann. Er will unbedingt einer von den Guten sein und allen von ihm als gerecht empfundenen Anforderungen auch gerecht werden. Rudkoffsky demaskiert die Unmöglichkeit dieses Anspruchs. Dabei jongliert er geschickt zwischen humorvollen Szenen und anrührenden Momenten. Mal gibt er Malte schonungslos der Lächerlichkeit preis, entblößt ihn buchstäblich bis auf die Haut, mal inszeniert er ihn als tragische Figur, die sich aufopferungsvoll selbst erniedrigt nur, um den eigenen Idealen gerecht zu werden.

Interessanterweise spielen die Frauen in diesem Roman nur Stichwort gebende Nebenrollen und trotzdem ist Rudkoffskys „Mittnachtstraße“ ein extrem feministischer Roman. Feminismus, das zeigt Rudkoffsky seinen Leser:innen anschaulich, ist ein ebenso weibliches wie männliches Thema. Feminismus kann nur funktionieren, wenn er gleichermaßen von Frauen und Männern gelebt wird.

Es ist viel von toxischer Männlichkeit die Rede. Malte erkennt, dass es nicht nur seine eigene Männlichkeit ist, die er neu bewerten, neu ausrichten, muss. Auch das Vaterbild verdient eine differenziertere Betrachtung. Sich von falsch verstandener Männlichkeit abzuwenden befreit am Ende vor allem die Männer. 

Rudkoffsky lässt seinen Protagonisten alle Höhen und Tiefen des Scheiterns durchleben, am Ende hält er jedoch fest zu ihm. Malte ist das Verbindungsglied zwischen Vergangenheit und Zukunft.

„Ich werde in diesem Jahr dreiundvierzig und gehöre damit weder der Generation meines Vaters noch der meines engagierten Sohnes an. Ein bisschen bin ich wie das Autor, das ich derzeit fahre. Ein Hybrid – quasi das Beste aus beiden Welten. Ich stehe für den Ausgleich zwischen Jung und Alt, für Maß und Mitte, für Moderation anstelle von Streit.“
Seite 258

Malte repräsentiert diejenige Generation, die an der Schwelle steht. Die den Umbruch bewirkt.  Die nächste Generation steht schon bereit. Im Buch ist sie durch Maltes Sohn Jonas vertreten. Die Fehler der Eltern-Generation überwinden heißt, die Verantwortung an die Jungen abzugeben.

Auch wenn Rudkoffsky durch Besetzungsliste und Handlungsorte in seinem Roman die Durchschnittlichkeit eines aktuellen Alltags inszeniert, ist seine Inszenierung selbst weit entfernt von jeder Durchschnittlichkeit. Ab Seite Eins liest sich „Mittnachtstraße“ so flüssig weg wie ein Unterhaltungsroman. Der Autor macht es seinen Leser:innen leicht, ihm in die Tiefe komplexer Themen zu folgen. Er überzeugt durch sein sicheres Sprachgefühl. Kein Wort ist bei ihm zufällig platziert. Jedes Detail ist durchdacht. Jede noch so beiläufig erscheinende Beschreibung spiegelt den gesamten Roman. Ausgewogen mixt Rudkoffsky Situationskomik mit Alltagstragik, Aktualität mit grundsätzlichen Fragen.

„Mittnachtstraße“ ist nach „Fake“, der zweite Roman des Autors, der im Berliner Verlag Voland & Quist erschienen ist. Auch dieser Roman wurde hier bei booknerds bereits besprochen. Beiden gilt die absolute Leseempfehlung der Redaktion!

  • Autor:  Frank Rudkoffsky 
  • Titel:  Mittnachtstraße
  • Verlag:  Voland & Quist
  • Erschienen:  September 2022
  • Einband:  Gebundene Ausgabe
  • Seiten:  270 Seiten
  • ISBN:  978-3863913366


Wertung: 13/15 dpt


Schreibe einen Kommentar

Hinweis: Mit dem Absenden deines Kommentars werden Benutzername, E-Mail-Adresse sowie zur Vermeidung von Missbrauch für 7 Tage die dazugehörige IP-Adresse, die deinem Internetanschluss aktuell zugewiesen ist, in unserer Datenbank gespeichert. E-Mail-Adresse und die IP-Adresse werden selbstverständlich nicht veröffentlicht oder an Dritte weitergegeben. Du hast die Option, Kommentare für diesen Beitrag per E-Mail zu abonnieren - in diesem Fall erhältst du eine E-Mail, in der du das Abonnement bestätigen kannst. Mehr Informationen finden sich in unserer Datenschutzerklärung.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Ähnliche Beiträge

Du möchtest nichts mehr verpassen?
Abonniere unseren Newsletter!

Total
0
Share