Mit Amélie Nothomb verbindet mich eine Art Lese-Hass-Liebe. Meistens liebe ich ihre Bücher und ihre besondere Art zu schreiben. Ab und an schafft sie es dann leider – mit einem in meinen Augen ziemlich vermurksten Plot – ihre eigene Genialität zu torpedieren und ich bin maßlos enttäuscht. Doch dann wieder schreibt eines von den Büchern, bei denen ich aus dem Liebhaben gar nicht mehr rauskomme. Um es gleich vorweg zu nehmen: Ihr neuer Roman „Der belgische Konsul“ gehört in die Kategorie „Liebhaben“.
Amélie Nothomb nimmt sich der eigenen Familiengeschichte an. Im Mittelpunkt steht Patrick Nothomb, ihr eigener Vater, dem sie hier ein liebevolles Denkmal setzt.
Sie lässt ihn als Ich-Erzähler selbst zu Wort kommen. Dadurch erzeugt sie Nähe zwischen ihrem Protagonisten und den Leser:innen, aber zugleich auch eine reflektierende Distanz zwischen der literarischen Figur und der Autorin. Denn Nothombs Roman ist keine Biografie im klassischen Sinne. Der Vater ist hier Romanfigur, das Erlebte phantasievoll ausgeschmückt und literarisch verdichtet.
Der Einstieg ins Romangeschehen ist hochdramatisch. Diplomat Patrick steht im Kongo vor seinem Erschießungskommando und erinnert sein bisheriges Leben.
Das Erinnern führt weit zurück in die jüngste Kindheit. Patrick hat eine Mutter, die sich ihre Witwenschaft zur Lebensaufgabe macht. Einen Vater, der im jungen Alter von nur 25 Jahren tödlich verunglückt ist und für den Heranwachsenden nur als Sehnsuchtsfigur existiert. Eine Großmutter voll überfürsorglicher Liebe, einen Großvater mit altmodischer Härte. Und dann sind da noch die Nothombs, die Familie des verstorbenen Vaters, die sich um Patriarch Pierre Nothomb, den Großvater Patricks, scharrt, einen verarmten Adligen und Poeten, der mit seiner zweiter Frau und einem Dutzend Kindern in einem verwahrlosten Schloss in den Ardennen haust.
Der Junge Patrick wird zur Sommerfrische zu den Nothombs geschickt. Das Leben dort ist wild, die sich meist selbst überlassenen Kinder hungern regelmäßig. Er erlebt das krasse Gegenteil von seinem behüteten Leben in Brüssel. Doch Patrick ist fasziniert. Er sieht das Abenteuer und seine Naivität schützt ihn davor, sich das Prekäre an der Lebenssituation zu Herzen zu nehmen.
Dass zu Beginn der Handlung noch der Zweite Weltkrieg herrscht, erscheint Amélie Nothomb seltsamerweise kaum der Rede wert. Die Schrecken des Krieges verblassen hinter den romantisierenden Erinnerungen des Jungen. Patricks Kindheit erscheint wie aus der Zeit gefallen. Oder anders gesagt: Wie eine Kindheit, der die Zeit nichts anhaben kann.
Überhaupt wirkt der väterliche Protagonist wie ein anachronistischer Held. Ein liebenswerter Mensch, der beharrlich das eigene Glück verfolgt. Die reale Historie im Roman diktiert zwar die Hindernisse, die ihm dabei begegnen. Aber die Person selbst bleibt davon unberührt. Er ist integer, sich selbst treu. Patrick ist ein Mann, der Frau und Kinder liebt und diese Liebe zum Mittelpunkt macht.
Nothomb erzählt mit der ihr typischen sprachlichen Eleganz. Mit wenigen Worten wirft sie komplexe Zusammenhänge aufs Papier und zeichnet ganze Biografien nach. Eloquent jongliert sie zwischen poetischem Stil und humorvoller Ironie. Sie verklärt nichts und ist jedoch weit davon entfernt mit ihrer Familiengeschichte abzurechnen. Ihr Blick auf die Menschen und deren Befindlichkeiten ist gewohnt messerscharf, doch in ihrem Urteil zeigt sie sich ungewohnt milde und versöhnlich. Sie blickt mit viel Verständnis und Liebe auf alle Protagonisten. Das macht ihren Roman zum bisher vielleicht zärtlichsten ihrer bisherigen Bücher.
- Autorin: Amélie Nothomb
- Titel: Der belgische Konsul
- Originaltitel: Premier sang
- Übersetzerin: Brigitte Große
- Verlag: Diogenes Verlag
- Erschienen: Juni 2023
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 143 Seiten
- ISBN: 978-3257072310
Wertung: 13/15 dpt