„Peter Pan“-Adaptionen und -Neuinterpretationen gibt es unzählige und auch A. C. Wise hat sich in ihrem ersten Buch der „Dunkles Nimmerland“-Reihe mit „Hooked“ dem Antagonisten von J. M. Barries Original angenommen.
Bei „Wendy, Darling“ handelt es sich um eine Fortsetzung, die sich aber auch unabhängig von „Hooked“ lesen lässt. Allerdings glaube ich, dass mir, dadurch dass ich weder „Peter Pan“ im Original noch „Hooked“ bisher gelesen habe, ein paar kleine Feinheiten in „Wendy, Darling“ entgangen sein könnten. Dies hat meinem Lesevergnügen aber keinen Abbruch getan – im Gegenteil hat es mich nur noch neugieriger auf die anderen Geschichten gemacht!
A. C. Wises Wendy ist im Jahre 1931 mittlerweile erwachsen, verheiratet und hat eine Tochter. Nimmerland und ihre Abenteuer dort sind zwar nicht vergessen, aber lange Zeit her. Doch als Peter zurückkehrt und ihre Tochter Jane entführt, muss Wendy sich erneut ihrer Vergangenheit stellen und selbst nochmal ins Nimmerland reisen, um Jane zu retten.
Wendy und ihre Brüder John und Michael haben nach ihrer ersten Rückkehr aus dem Nimmerland sehr leiden müssen. Dargestellt wird das im Buch durch Rückblenden ins Jahr 1918, die darstellen wie unterschiedlich die drei Geschwister mit der Herausforderung umgingen, durch den Verlust von Nimmerland und weitere traumatische Ereignisse, plötzlich erwachsen werden zu müssen. Ihre Geschwisterbeziehung zerbricht fast daran und erst nach einigen Jahren, die Wendy größtenteils in der Psychiatrie verbringt, schaffen es die drei wieder einen vertrauensvollen Umgang miteinander zu finden. Ihre gemeinsamen Erlebnisse im Nimmerland sind jedoch ein Tabu-Thema und Wendy kann diese nur mit ihrer Freundin Mary teilen.
Das Erwachsenwerden und die Dinge die damit einhergehen sind, wie sollte es bei einer Adaption von Peter Pan auch anders sein, ein Schlüsselthema in „Wendy, Darling“.
Aber auch die Bedeutung von Mutterschaft, der damit einhergehenden Verantwortung und Feminismus wird auf einer Metaebene im Buch verhandelt.
Wie viel der Wahrheit können wir unseren Kindern zumuten? Ab wann übertragen wir transgenerational unsere eigenen Traumata? Und können wir sie davor bewahren?
A. C. Wise schreibt Wendy als starke und kluge Frau, die sich ihren Ängsten stellt, um Verantwortung zu übernehmen, für die, die sie liebt.
Gleichzeitig verhandelt sie im Buch am Rande aber auch aktuelle Themen, wie Homophobie, gleichgeschlechtliche Beziehungen und Fremdbezeichnungen indigener Völker (wer die Geschichte grob kennt, erinnert sich sicher an Tiger Lily) und macht die Geschichte damit, ganz nonchalant und ohne zu belehren, zeitgemäß. Kritiker mögen jetzt behaupten, dass dies für eine Geschichte, die 1931 spielt „unrealistisch“ sei. Allerdings war Homosexualität auch damals schon existent und Angehörige indigener Völker haben sich selbst nicht als „Indianer“ bezeichnet.
Die Reihe trägt den Titel „Dunkles Nimmerland“ und das ist hier definitiv Programm. Auch wenn es sich nicht um waschechten Horror handelt und es nie blutig wird, entromantisiert A. C. Wise Nimmerland und vor allem die Figur des Peter Pan. Dessen Horror kommt subtil und psychologisch daher und er wird zum moralisch grauen Antagonisten, bei dem man immer zwischen Abscheu und Mitleid mit diesem grausamen Kind schwankt. Weitere bekannte Figuren wie die Nixen und Tiger Lily mutieren zu horrorähnlichen Figuren und Wendys traumatische Erfahrungen in der Psychiatrie werden plastischer geschildert.
Besonders gut gefallen haben mir auch Motive, die sich durch die gesamte Geschichte ziehen und im Verlauf eine andere Bedeutung erhalten, wie z. B. Nadel und Faden.
[…]
Vor ihr kann er sich nicht verstecken, sie wird jenem Faden den gesamten Weg nach Nimmerland folgen.“
Alles in allem handelt es sich bei „Wendy, Darling“ um eine großartige Adaption, die die Schwächen des Originals dekonstruiert und zu etwas völlig Neuem werden lässt. Ich hoffe auf mehr Teile zu „Dunkles Nimmerland“! Sehr interessant fände ich zum Beispiel auch, wie Peter überhaupt zu dem geworden ist, was er in „Wendy, Darling“ darstellt.
- Autor: A. C. Wise
- Titel: Wendy, Darling
- Originaltitel: Wendy, Darling
- Übersetzerin: Iris Bachmeier
- Verlag: Crosscult
- Erschienen: April 2024
- Einband: Hardcover
- Seiten: 368
- ISBN: 978-3-9866645-9-6
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Wertung: 13/15 dpt