Vielschichtige Abenteuergeschichte aus Ostafrika
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, begründet durch den Fund des Steins von Rosette und vor allem dessen Ausstellung in London, erwacht das Interesse an Geschichte neu. Allerdings stehen nicht mehr Griechen oder Römer im Mittelpunkt, sondern das alte Ägypten. Die Royal Geographical Society organisiert daher eine Expedition, um die Quelle des längsten Flusses der Welt zu entdecken. Richard Francis Burton, in erster Linie ein Exzentriker, aber ebenso Sprachgenie und Soldat, später Buchautor und zudem Übersetzer erotischer Werke, soll die Erkundung leiten. Eher zufällig stößt John Hanning Speke dazu. Er ist das Gegenteil von Burton. Überzeugter Engländer aristokratischer Abstammung, leidenschaftlicher Großwildjäger und rein gar nicht an Sprachen und Kulturen anderer Länder respektive Menschen interessiert. Später wird noch Sidi Mubarak Bombay zu der Expedition stoßen, ein früherer Sklave, der viele Jahre in Indien lebte und dessen Hilfe für Burton und Speke unentbehrlich wird.
Die Expedition dauert von 1856 bis 1859 und steht von Beginn an unter einem schlechten Stern. Unterfinanziert, zu wenig Träger und Helfer, weniger Proviant als benötigt und hunderte Kilometer durch nicht kartographiertes Gelände vor sich. Das Expeditionsteam verkleinert sich vom ersten Tag an, ebenso die Anzahl der Maultiere. Zudem plagen Seuchen und Krankheiten die Truppe, dezimieren diese nahezu täglich. Das Ziel ist der Tanganjika, ein rund 670 Kilometer langer Südwassersee, den Burton als Quelle des Weißen Nils vermutet. Als sie diesen Anfang 1858 erreichen folgen herbe Rückschläge. Burton hat schwere Lähmungserscheinungen, die rund ein Jahr anhalten sollen, während Speke weitgehend erblindet. Dennoch machen sich während Burtons Transportunfähigkeit Speke und Bombay auf den Weg zum Nyanza, dem größten See Afrikas und dem zweitgrößten Südwassersee weltweit. Heute als Victoriasee berühmt.
Am Ende der vorzeitig abgebrochenen Expedition trennen sich die Wege von Burton und Speke auf dramatische Weise. Burton bleibt vorerst krankheitsbedingt auf Sansibar zurück, während Speke nach England abreist und dort den Erfolg der Expedition für sich verbucht. Zudem ist er überzeugt, dass die gesuchte Quelle des Weißen Nils der Nyanza ist. Was folgt sind erbitterte Streitigkeiten der einstigen Gefährten, die aus Freunden Feinde machen.
Literarisches Denkmal für drei höchst unterschiedliche Menschen
„Die größte Abenteuergeschichte des 19. Jahrhunderts“, so ist auf dem Buchrücken zu lesen. Vorab ist zu bemerken, dass Candice Millard, preisgekrönte amerikanische Journalistin und Autorin, ein beeindruckendes Sachbuch vorgelegt hat. Allein die Anmerkungen und Quellenangaben umfassen gut fünfzig Seiten. Gleichwohl ist das Buch angenehm lesbar, wenngleich die unzähligen Namen afrikanischer Länder (die damals noch anders hießen), Stämmen und Personen kaum zu bewältigen sind.
„Der Fluss der Götter“ erzählt eine Entdeckungsreise durch Ostafrika, deren Vorbereitung allein schon hoch interessant ist. Sie will finanziert werden, ebenso müssen ausreichend Leute gefunden werden. Beides gelingt nicht. Stattdessen die verheerende Entscheidung für Speke, der sich als egozentrischer Unruhestifter entpuppen wird; später gemeinsam mit etlichen Helfern, die Burton verhasst gegenüberstehen. Der Roman stellt Burton in den Mittelpunkt der Handlung, der gleichzeitig die interessanteste Person darstellt. 25 Sprachen soll er gesprochen haben, dazu mehrere Dialekte. Speke und vor allem Bombay werden weniger Platz eingeräumt, wobei bemerkenswert ist, dass im Gegensatz zu früheren, zeitgenössischen Werken, also zur Zeit des Imperialismus, die Bedeutung des einheimischen Führers Bombay herausgestellt wird. Prägten Mitte des 19. Jahrhunderts noch Rassismus und Darwins Rassenlehre das Denken weißer Menschen, so erkannte man immerhin am Ende dieser Geschichte, dass ohne die Hilfe afrikanischer Einheimischer Expeditionen gar nicht möglich gewesen wären.
Auch Burton und Speke waren Rassisten, lehnten allerdings den weitverbreiteten Sklavenhandel in Ostafrika vehement ab. Diesen erlebten sie bei ihrer Ankunft auf Sansibar hautnah. Acht- bis zehntausend Menschen aller Altersgruppen wurden jährlich aus ihren Dörfern entführt und in Ketten auf die Insel verschleppt. Wer die anschließende Weiterreise überlebte und dann Pech hatte, landete auf einer der zahlreichen Plantagen Amerikas. Wer überlebte und Glück hatte, landete wie Bombay in Indien, wo afrikanische Menschen ihren Besitzern vor allem als Statussymbol dienten. Sie erhielten Zugang zur Bildung und konnten beruflich Karriere machen, bevorzugt in der Verwaltung oder beim Militär. Nach dem Tod seines Besitzers reiste Bombay zurück nach Sansibar, wo er – als freier Mensch – auf Burton und Speke traf.
Millard zeigt ein facettenreiches Bild von dem damals weitgehend unentdeckten Afrika. Wer sich für den Kontinent interessiert, sollte hier unbedingt zugreifen. Aber auch allgemein historisch betrachtet, ist „Der Fluss der Götter“ eine klare Empfehlung. Durch zahlreiche Zitate aus Briefen, Tagbüchern und ähnlichen Werken fällt das Buch insgesamt recht kurzweilig aus. Es schildert farbenfroh und detailreich die damalige Expedition (letztlich sind es drei) sowie deren Vor- und vor allem Nachgeschichte, in der sich Burton und Speke „bekämpfen“. Zwei Übersichtskarten, umfangreiches Bildmaterial sowie ein ebensolcher Anhang runden den durchweg positiven Eindruck ab.
- Autorin: Candice Millard
- Titel: Der Fluss der Götter: Die abenteuerliche Expedition zu den Quellen des Nils
- Originaltitel: River of the Gods: Genius, Courage, and Betrayal in the Search for the Source oft he Nile. Aus dem Englischen übersetzt von Irmgard Gabler
- Verlag: S. Fischer
- Umfang: 432 Seiten
- Einband: Hardcover
- Erschienen: September 2023
- ISBN: 978-3-10-397533-8
- Produktseite
Wertung: 13/15 dpt