Saša Stanišić – Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne (Buch)


Wie Lebenswege, Wendepunkte, Träume und Geschichten einander begegnen

Jeder Mensch hat sich vielleicht schon einmal dieselben Gedanken gemacht, wie Piero, Nico, Fatih und Saša in der Kurzgeschichte „Neue Heimat“: Welchen Weg würde mein Leben eingeschlagen, wenn ich an einem bestimmten Punkt, die eine oder eine andere Entscheidung träfe. Ich tue, sage oder denke etwas Bestimmtes an Wendepunkten meines Lebens. Was würde passieren, wenn ich etwas anderes sagen, oder nichts sagen, etwas anderes tun, oder nichts tun würde. Oder einen anderen Gedanken, einen anderen Traum verfolgen würde. Wäre es nicht super, ein Blick auf die Konsequenzen meines Handelns werfen zu können? Und die Zukunft einzuloggen, wenn sie mir gefällt?

Die Anthologie „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ von Saša Stanišić geht diesen Fragen nach. Sie erzählt zum Teil autobiografische Geschichten, in denen der Autor eigene Erlebnisse interpretiert. Aber auch fiktive Protagonst:innen, wie Fatih Ozan und seine Mutter Dilek, Georg Horvath und sein Sohn Paul und Mo (Muhamet) Kërpaçi erzählen von solchen Situationen. Die vorletzte Geschichte „Anprobe“ führt die zuvor erzählten Geschichten zusammen. Während die letzte Geschichte denselben Titel wie die erste trägt und eine Alternativversion von „Neuer Heimat“ erzählt. Und weil die einzelnen Geschichten wie Puzzleteile zu einem großen Ganzen werden, gibt uns der Autor zu Beginn einen wichtigen Rat:

Bitte der Reihe nach lesen – Saša Stanišić

»Ohne Plan ist sowieso am geilsten« sprach Nico die große Wahrheit aus und lehnte sich zurück, weil man das so tat, nachdem man eine große Wahrheit ausgesprochen hatte in den Weinbergen. Fatih lehnte sich auch zurück und Piero auch, ich lehnte mich auch zurück, und dann lehnte sich, ohne Scheiß, das komplette Neckartal zurück, kurz knirschte der Horizont. S. 20

Saša Stanišić führt uns zu Wendepunkten. An solche, die jugendlichen Träumen eine Zukunft  (Neue Heimat) und verpassten Träumen eine zweite Chance geben (Traumnovelle). Oder zu Szenen aus dem ganz normalen Familien-Wahnsinn, die ganz normale Väter dazu bringen beim Piraten-Memory zu mogeln. Oder das Kleinkind brüllen zu lassen, um Pokemon Go zu zocken. Oder den Job zu kündigen. Und mit dem Sohn an der Straßenbahn-Haltestelle sehr schräge Dinge mit Pommes und Tauben anzustellen (Gegen das Kind in Memory gewinnen – verlieren – unentschieden holen).

Noch nie sind mir Geschichten mit so langen Titeln in einer Anthologie begegnet. Eine strukturell so komplexe wie faszinierende Geschichte trägt den Titel „Es pfeift der Wind bei hohler See, nicht Mond, nicht Stern ist in der Höh, doch halten fest wir im Gesicht auf fernem Turm der Heimat Licht wohin wir oft uns fanden“. Mit der zweiten Strophe des Helgoländer Fischerlieds hat der Autor also diese Geschichte überschrieben, in der er sich bezüglich Erzähl- und Handlungsebenen so richtig ausgetobt hat. Eine fiktive Romanfigur erzählt von einem Autor, der eine Geschichte schreibt und kommentiert das Ergebnis. Der Erzähler wird von der Wirtin der Gaststätte „Inselkrug“ auf Helgoland des Diebstahls eines historischen Kneipenschilds bezichtigt. Sie verweist auf einen jugendlichen Dieb aus Heidelberg, der 20 Jahre zuvor ein Mädchen beeindrucken wollte. Dabei erzählt sie auch von Kriegserlebnissen ihres Vaters im Zweiten Weltkrieg, was in dem Erzähler eigene Erinnerungen aus dem Krieg in Bosnien wiedererweckt. Saša Stanišić kombiniert in der „Helgoland-Geschichte“ nicht nur Rahmenhandlung, Geschichte und Binnenerzählungen miteinander, sondern verknüpft sie darüber hinaus mit weiteren Geschichten aus der Anthologie.

Geschichten verbinden

Mo ist jemand, der auf Geschichten als Kraftquelle des Miteinanders vertraut. Der also nicht »Ich weiß.« sagt, sondern »Und dann?« Oder »Wie kann man sich das vorstellen?« Oder »Was wir denken, ist niemals Hirngespinst.« Oder »Und andersherum?« Oder »Ich setze auf die Gegenwart, so wie man eine bedeutende Summe auf eine Karte setzt, und suche sie so hoch zu steigern als möglich.« S. 125

Die Geschichten um Mo („Gründe einer Verspätung“, „Mo, der Panther und Petra, der Funker) erheben das Geschichtenerzählen zur Essenz des menschlichen Miteinanders. Und wehe, jemand wagt, die kleinen und großen Absurditäten darin anzuzweifeln. Allein die Geschichte mit dem umfassenden Titel „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ ist inhaltlich nicht unmittelbar mit einer anderen Geschichte verknüpft (außer mit der vorletzten). Sie ist dennoch ein wichtiges Puzzleteil für das thematische Gesamtbild der Anthologie. In ihr begegnen wir Gisel, die ihren verstorbenen Ehemann vermisst und gegen Einsamkeit kämpft. Sie trifft andere Menschen, die ebenfalls allein oder dem Tod begegnet sind. Gisels einfühlsame Art und ihr Humor schenken Seelenfrieden und schaffen Verbundenheit.

Was wäre gewesen, wenn

Wer den teilweise autobiografischen Roman „Herkunft“ von Saša Stanišić gelesen hat, erkennt in Geschichten wie „Neue Heimat“ und „Der Hochsitz“ Erlebnisse aus der Jugend des Autors wieder. Die Familie Stanišić floh aus dem Krieg in Bosnien nach Heidelberg, wo sie unter nicht einfachen Bedingungen eine neue Heimat finden musste. Auch die Erinnerungen an Bombennächte im Bunker in der „Helgoland“-Geschichte dürften auf wahren Erlebnissen beruhen.

Die Geschichten der Anthologie „Möchte die Witwe angesprochen werden,…“ erzählen in eingängiger Sprache und mit anschaulichen Bildern über schwierige Lebenswege, die sich kreuzen, die Richtung ändern und schließlich Träumen folgen. Philosophisch anmutend ist immer so ein gewaltig klingendes Attribut, aber hier trifft es zu. Außer der Frage nach „Was wäre, wenn“ geht es auch um das „Wo komme ich her?“ und „Wo gehe ich hin?“. Die Zukunft wird als Variable beschrieben. Das Ergebnis hängt davon ab, wie wir mit dem umgehen, was uns das Leben hinwirft. Für Saša Stanišić begann der Lebensweg mit Kriegsgräuel und der Suche einer Heimat in einem fremden Land. Und führte zur Erfüllung eines Lebenstraums: Geschichten schreiben als Berufung und Beruf. Eine Zukunft, die er vielleicht schon mit sechzehn Jahren liebend gern eigeloggt hätte und die er sich erarbeitet hat.

„Herkunft“ endet mit der dementen Großmutter und slawischen Drachen, beinahe wie ein Fantasy-Roman. Auch in dieser Anthologie wertet das phantastische Element in Form eines Magischen Realismus die Geschichten auf. Besonders prägnant in der lässig Realitätsnähe und überbordende Fantasie überschreitenden Helgoland-Geschichte. Und erst recht in „Anprobe“, dem zehn Minuten Probelauf aus der Zukunft eines jeden Protagonisten. Sollte Euch Eure Anprobe eine wundervoll heitere und zugleich tiefgründige Lesezeit mit  „Möchte die Witwe angesprochen werden,..“ von Saša Stanišić vorhersagen – bitte unbedingt einloggen.

  • Autor: Saša Stanišić
  • Titel: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne
  • Verlag: Luchterhand
  • Erschienen: 05/2024
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 256
  • ISBN: 978-3-630-87768-6
  • Sonstige Informationen:
  • Produktseite (beim Verlag)

Wertung: 15/15 dpt


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