Samantha Harvey – Umlaufbahnen (Buch)

Es geht um zwei Frauen und vier Männer, die an Bord der Internationalen Raumstation ISS leben und arbeiten. Aber die eigentliche Hauptdarstellerin ist jemand anderes – nämlich die Erde aus dem All gesehen. In 90 Minuten umrundet die Raumstation einmal unsere Erde, und die Astronaut:innen erleben daher innerhalb von 24 Stunden 16 Sonnenauf- und -untergänge. Und immer wieder blicken sie zur Erde, sehen Länder, Landschaften, Stürme, scheinbar unbelebte Gebiete im Tageslicht und leuchtende Städte in der Dunkelheit unter sich hinwegziehen. Dazwischen: kurze Beschreibungen des Alltags auf einer Raumstation, ein paar persönliche Hintergründe und sehr viele Gedanken zur Wichtigkeit oder Unwichtigkeit der Menschheit und zur Fragilität und Faszination der blauen Kugel namens „Erde“.

Jedes Kapitel entspricht einer Umlaufbahn, insgesamt 16 Weltraumtage fügen sich zu einem irdischen 24-Stunden-Tag zusammen. Das ist allerdings auch schon die einzige Struktur, die die Leser:innen führt. Wer nach einem roten Faden, einer Geschichte mit Beginn und Ende, nach romanhaftem Inhalt sucht, sollte diese Suche möglichst schnell aufgeben. Denn zum einen werden die Lesenden das in „Umlaufbahnen“ in keinster Weise bekommen, zum anderen wird man mit dieser Erwartung nicht viel Freude an dem Buch haben. Samantha Harvey – die die natürliche Schönheit als ihre größte Inspiration nennt – lässt ihre Lesenden ebenso schweben, wie es die sechs Astronaut:innen tun. Sätze sind lang und voller Adjektive, die Sprache ist oft blumig, manchmal kitschig, aber fast immer sehr poetisch und atmosphärisch. Jedes Wort muss sorgfältig gelesen werden, sonst verpasst man den Sinn des Satzes und gerät vollständig ins Schwimmen und Schweben. Von Absatz zu Absatz wechseln sich Personen und ihre Gedanken, Beschreibungen der Erde und Zusammengetragenes aus der Raumfahrt ab, alles fließt ineinander.

Und dann dieser erste, verblüffende Anblick der Erde, ein großer Brocken Turmalin, nein, eine Zuckermelone, ein Auge, eine lila, weiße, magenta, orange-mandel-mauvefarbene zerbeulte, reliefreiche Pracht.

Ob man Harveys „Umlaufbahnen“ einen Roman nennen kann oder besser einen Essay oder eine Betrachtung – darüber kann man diskutieren. Die Autorin hat damit 2024 den englischen Booker Prize gewonnen, und nach ihrer Nominierung sagte sie im Interview, sie habe eine Art Schäferdichtung im Weltall, ein „space pastoral“ schreiben wollen. In der Renaissance und im Barock war die Schäferdichtung eine Literaturform, bei der das ländliche Leben und die Natur idealisiert wurden. Das Leben an Bord wird nicht idealisiert: Die Schwerelosigkeit verändert den Körper, der sich erst daran gewöhnen muss, dass es kein Unten und kein Oben und keine Schwerkraft gibt. Die Raumstation ist vollgestopft und eng, das Essen an Bord kann auch nicht mit dem irdischen Essen mithalten. Für die Astronaut:innen gilt: Egal, was auf der Erde geschieht – sie bleiben gefühlt unerreichbar weit entfernt und isoliert von Familie und Freunden. Die Natur hingegen wird aber gewaltig idealisiert: Die prächtige Erde, Wüsten wie Pinselstriche im Sandmeer, Inseln, das alles wird beinahe rauschhaft und auch seitenlang beschrieben und gefeiert. Ein paar Seiten weniger schwärmerische Beschreibungen der Erde hätten es sicherlich auch getan.

Fazit:

Für Weltraumfreaks bietet „Umlaufbahnen“ inhaltlich wenig Neues, auch wenn Samantha Harvey viel und sorgfältig recherchiert hat. Vielleicht schreckt auch die emotionale, atmosphärische Sprache diejenigen ab, die Technik und Wissenschaft lieben. Für alle anderen kann das Buch aber durchaus zu einem Erlebnis werden, voller Philosophie, Poetik und ungewöhnlichen Perspektiven. Die Gedanken von Astronaut Pietro bringen es auf den Punkt: „Unsere Leben hier sind unbeschreiblich banal und bedeutsam zugleich. Monoton und gleichzeitig noch nie dagewesen. Wir sind immens wichtig und völlig unwichtig.“ Ein Buch, auf das man sich einlassen muss und das in seiner Art konsequent ist.

Wertung: 12/15 dpt

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