Packender Psychothriller aus der Kunstwelt

Die Künstlerin Vanessa Chapman starb vor gut fünf Jahren und vermachte ihren künstlerischen Nachlass der Fairburn-Stiftung, die heute von Sebastian Lennox geleitet wird. Sein Vater Douglas war Chapmans erster Galerist und hatte mit ihr eine leidenschaftliche Beziehung. Es kam jedoch zu einem erbitterten Streit wegen einer abgesagten Ausstellung, so dass die Erbschaft für viele überraschend kam. Aktuell werden einige Skulpturen in der Tate Modern in London ausgestellt, wo einem Besucher bei dem Kunstwerk „Division II“ auffällt, dass nicht wie angegeben ein Paarhufergerippe als Material verwendet wurde, sondern ein menschlicher Knochen. Dies könnte für enorme Werbung sorgen, denn Chapmans untreuer Ehemann Julian verschwand vor zwanzig Jahren spurlos. James Becker, Kurator der Ausstellung und Chapman-Experte, soll im Auftrag seines Chefs Sebastian Druck auf Grace Haswell ausüben, die als Testamentsvollstreckerin noch immer im Besitz zahlreicher Kunstwerke, Tagebücher, Briefe und weiterer Unterlagen ist.
„In der Liebe und im Krieg ist alles erlaubt, aber Freundschaft ist doch ebenfalls Liebe, oder? Und manchmal auch eine Art von Krieg.“
Chapman lebte auf Eris Island, einer schottischen Gezeiteninsel, die in Abhängigkeit von Flut und Ebbe nur in jeweils sechsstündigen Zeitfenstern erreicht oder verlassen werden kann. Becker nimmt Kontakt zu Haswell auf, die sich zunächst weigert, weitere Gegenstände auszuhändigen. Doch die beiden kommen sich in der Sache näher und so erhält Becker nach und nach einen ebenso tiefen wie verstörenden Einblick in Leben und Werk von Chapman, in dem gleich mehrere Menschen unter fragwürdigen Umständen starben und verschwanden.
„Die blaue Stunde“ schreit nach einer Verfilmung
Nach „Girl on the Train“ dürfte sich „Die blaue Stunde“ ebenfalls für eine Verfilmung aufdrängen. Das Buch ist temporeich erzählt, wenngleich man aufmerksam lesen muss, um die Beziehungen der mitwirkenden Figuren untereinander zu verstehen. Becker ist mit Helena liiert, die ein Baby erwartet und zuvor die Geliebte seines Chefs Sebastian war. Deren Hochzeit war schon terminiert als ein Jagdunfall, bei dem Douglas erschossen wurde, die Pläne vereitelte. Dann gibt es im Hafen gegenüber von Eris Island noch die alte Marguerite, die sich noch immer vor Stuart, ihrem längst verstorbenen Mann, fürchtet und auch Haswell hatte so die eine oder andere Beziehung, die nicht immer nach ihren Wünschen verlief.
Vanessa Chapman war eine egozentrische Künstlerin, die Journalisten verabscheute, kreativ in der Einsamkeit ihrer Insel war und einige widersprüchliche Beziehungen zu Männern hatte, die von gegenseitiger Hassliebe erfüllt waren. Als sie an Krebs erkrankte war Haswell, gelernte Ärztin, als Freundin an ihrer Seite und lebte mit ihr zeitweise zusammen auf Eris Island. Aber auch diese Beziehung war von Widersprüchen geprägt. Erzählt wird die Geschichte in der Gegenwart mit vielen Rückblenden sowie der Wiedergabe von Briefen, Tagebucheinträgen und einigen Zeitungsartikeln.
„Findest du das nicht merkwürdig? Diese Haswell war seit zwanzig Jahren Vanessas Freundin, ihre Pflegerin, ihre Partnerin, und trotzdem hat Vanessa dafür gesorgt, dass sie nach seinem Tod – wie du es formuliert hast – mit nichts dastand. Was glaubst du, was der Grund dafür war?“
Becker fährt wiederholt nach Eris Island, einer grundsätzlich frei zugänglichen Insel, die eine tolle Aussicht auf das Meer bietet. Dort gibt es Chapmans Haus, ihr Atelier, einen kleinen Wald und ein beeindruckendes Kliff. Durch die Auswertung von Chapmans Nachlass erschließt sich Becker aber auch ein großes Sodom und Gomorrha mit zahlreichen Liebesbeziehungen, die ebenso lust- wie gewaltvoll verlaufen. Als hätte er zuhause mit seiner schwangeren Frau und deren vormaligen Liebhaber nicht schon genug am Hals, gießt Sebastians Mutter bei jeder Gelegenheit Öl ins Feuer. So dauert es (zu) lange, bis Becker sich die ganze Tragweite der Ereignisse erschließt, wobei von Beginn an eine große Frage im Raum steht: Wessen Knochen hat Chapman verarbeitet?
Tempo- und wendungsreiche Action, deren Auflösung sich einem spät, dann aber mit Wucht erschließt. Schönes Kopfkino.
- Autorin: Paula Hawkins
- Titel: Die blaue Stunde
- Originaltitel: The Blue Hour. Aus dem Englischen von Birgit Schmitz
- Verlag: dtv
- Umfang: 368 Seiten
- Einband: Hardcover
- Erschienen: Januar 2025
- ISBN: 978-3-423-28454-7
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Wertung: 12/15 dpt