Erin Flanagan – Dunkelzeit (Buch)       

Zerfall einer Kleinstadt

Für Milo Ahern ist der große Tag gekommen. Tante Sally, Onkel Randall und Cousin George sind angereist, denn der Zwölfjährige soll an diesem Sonntag konfirmiert werden. Nicht nur in einer ländlichen Kleinstadt wie Gunthrum, Nebraska, ist dies ein Ereignis. Als Milo seine fünf Jahre ältere Schwester Peggy wecken soll, muss er feststellen, dass ihr Zimmer leer ist und das Bett nicht den Eindruck macht, als hätte jemand darin geschlafen. Sollte Peggy sich am Vorabend aus dem Haus geschlichen und bei ihrer Freundin Laura übernachtet haben?

Die Konfirmation findet ohne Peggy statt und Milo erfährt von Laura, dass die beiden gestern Abend auf der Castle Farm, eine verlassene Farm nördlich der Stadt, gefeiert hätten. Hier treffen sich die Einheimischen, Jugendliche wie Erwachsene, um Party zu machen, was meist in riesige Saufgelage ausufert. Gegen Mitternacht ist Laura aufgebrochen, da war Peggy, stark angetrunken, noch vor Ort.

„Klingt doch irgendwie komisch. Jemand verschwindet einfach so. In Gunthrum passiert das normalerweise nicht. In Gunthrum passiert überhaupt nie etwas. Vielleicht ist das ja genau das Problem.“

Alma und Clyle Costagan bewirtschaften die Nachbarfarm der Aherns und beschäftigen für Hilfsarbeiten den achtundzwanzigjährigen Hal Bullard, der als kleines Kind einen schweren Badeunfall hatte, dabei zu wenig Sauerstoff bekam und seither geistig zurückgeblieben ist. Dennoch brachte ihm Clyle bei, mit einem Gewehr zu schießen und seine Freunde Larry Burke und Sam Gary haben Hal eingeladen, sie über das Wochenende zum Beginn der Jagdsaison nach Valentine zu begleiten. 

Montagmorgen kommt Hal zur Arbeit und behauptet stolz, eine Hirschkuh geschossen zu haben. Damit erklärt er das Blut auf der Heckklappe. Die große Delle im Kühlergrill habe er sich zugezogen, als er besoffen gegen seine Garage gefahren sei, nachdem er seine Freunde in Valentine habe sitzen lassen und bereits am Samstagabend zurückgefahren sei, um auf der Castle Farm zu trinken.

Peggy bleibt auch die kommenden Tage verschwunden und während die Bewohner von Gunthrum bereits in Hal ihren Mörder sehen, fragen sich Alma und Clyle, die Hal als ihren Adoptivsohn betrachten, zu was dieser fähig sein könnte?

Ein Krimi als Sozialstudie

Ja, man kann – wie es das Buchcover angibt – den mit dem Edgar Allan Poe Award ausgezeichneten Debütroman „Dunkelzeit“ der US-amerikanischen Professorin Erin Flanagan als Kriminalroman lesen. Muss man aber nicht, denn auch wenn Sheriff Randolph die Suche nach der Vermissten übernimmt und Fragen stellt, so sind dessen Bemühungen eher Randerscheinungen. Im Vordergrund stehen zwei Fragen: Was geschah mit Peggy respektive ob sie noch lebt und was ihr Verschwinden mit den Bewohnern der Kleinstadt Gunthrum macht?  

„Dunkelzeit“ ist mehr Psychogramm und Milieu- oder Sozialstudie denn Krimi, spannend wie ein solcher ist der Roman aber in jeder Hinsicht. Alma und Clyle machen sich große Sorgen um Hal, der teils die Welt nicht mehr versteht. So wie vor einem Jahr als sich Peggy doch eindeutig in ihn verliebte. Nicht ganz, sie nahm ihn auf den Arm und bei einer Feier geriet die Situation etwas außer Kontrolle. Wenig verwunderlich also, dass man ihn, den Dorfdeppen, verdächtigt. Auf dem Land, wo jeder jeden kennt, macht das Thema schnell die Runde. Man zerreißt sich das Maul und die Situation für Hal wird zunehmend bedrohlich. Joe, der nicht selten zum Alkohol greifende Vater von Peggy, will bald den Täter zur Verantwortung ziehen. Wer eignet sich da vorschnell und besser als Hal? Dabei ist erst nach zwei Dritteln des Romans überhaupt klar, ob Peggy noch lebt.

„Sag deinem Mann einfach, er soll sich von Hal fernhalten.“

„In einer Kleinstadt wie dieser? Das wird schwer.“

Schnell zeigt sich, dass die Fassaden bürgerlicher Wohlanständigkeit in fast allen Familien fallen. Ehebruch und Saufgelage sind an der Tagesordnung und verraten viel über die Bewohner Gunthrums. Aber was will man auch in einem Kaff wie diesem anfangen, zumal wenn vor allem die Frauen in erster Linie nach ihrem Äußeren bewertet werden. Die Geschichte spielt gegen Ende des Jahres 1985, es geht folglich noch geruhsam zu. Für einige zu geruhsam, denn Peggy wollte alsbald in eine größere Stadt ziehen, um dort zu studieren. Der (geistigen) Enge des Dorflebens entkommen, das gelingt nicht vielen.

Alma und Clyle hätten es fast geschafft, waren schon in Chicago zuhause, doch dann wurde Clyles Mutter schwer krank und sie kamen zurück. Und blieben, was vor allem für Alma sehr schwer war. Nicht nur, weil ihr Mann plötzlich eine Affäre hatte, sondern weil die stets besserwisserische „Frau aus der Großstadt“, von den Einheimischen gemieden wird. Hieran hat sie mit ihrem selbstgerechten Auftreten allerdings eine gehörige Mitschuld.

Die Atmosphäre in Gunthrum kippt mehr und mehr und letztlich ist es Milo, dem ein wichtiges Ereignis auffällt und die Situation erst Recht aus dem Ruder laufen lässt. Am Ende liegt das Dorfleben am Boden und es kommt zur (überraschenden) Auflösung, um die es gar nicht so wirklich geht. Das Sezieren des gesellschaftlichen Zusammenlebens und dessen Auflösung bieten eine gelungene Sozialstudie, in denen die Beklemmung über Peggys Verschwinden mit jeder Seite spürbar zunimmt. Ein etwas anderer Krimi, der im Mai dieses Jahres als Taschenbuch erscheint. Nicht nur für Fans von Chris Whitaker eine Empfehlung!

  • Autorin: Erin Flanagan
  • Titel: Dunkelzeit
  • Originaltitel: Deer Saison. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Cornelius Hartz und Stefanie Kremer
  • Verlag: Atrium
  • Umfang: 368 Seiten
  • Einband: Taschenbuch
  • Erschienen: Mai 2025
  • ISBN: 978-3-03882-042-0
  • Produktseite

Wertung: 12/15 dpt

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