Janine Adomeit – Die erste halbe Stunde im Paradies (Buch)

Als Anne zehn Jahre alt ist, hat sie Mitleid mit ihren Klassenkameraden. Mit denen, „die keinen Bruder hatten. Keinen wie Kai.“ Das ist zu der Zeit, als die alleinerziehende Mutter der beiden schwer erkrankt und die beiden Geschwister gemeinsam die Unterstützung und Pflege der Mutter stemmen. Mittlerweile ist Anne Anfang 30, arbeitet strategisch an ihrer Karriere als Pharmareferentin und hat seit Jahren den Kontakt zu ihrem Bruder abgebrochen. Eigentlich will sie nur ihre Ruhe vor allem und allen haben: „Diese erste halbe Stunde im Paradies – die Zeitspanne, in der niemand etwas von einem will oder braucht und man selbst auch von niemandem etwas will oder braucht und daher nichts wehtun kann -, diese erste halbe Stunde stelle ich mir vor wie Glück.“ Bis bei einer Teambuilding-Veranstaltung ihr Handy mehrfach klingelt und ihr Bruder Kai am anderen Ende dran ist und sie um Hilfe bittet. Aber wie ist es dazu gekommen, dass aus der engen und loyalen Geschwisterbindung der Kontaktabbruch wurde?

Janine Adomeit springt kapitelweise zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit hin und her, bleibt dabei immer dicht an Annes Perspektive. Anne ist gerade einmal zehn Jahre alt, Kai 17, als die Mutter ihnen eine Mitteilung macht: Sie sei zwar nicht sterbenskrank, aber in Zukunft würden ihre Hände mehr zittern und sie wahrscheinlich auch schlechter Treppen steigen können. Die eigentliche Krankheit wird nie benannt, doch das liegt daran, dass die Vergangenheit aus dem Wissensstand einer Zehnjährigen rekapituliert wird. Dass die Mutter an Multipler Sklerose erkrankt ist, kann Anne nicht realisieren. Den Kindern, aber auch sich selbst gegenüber spielt die Mutter die Krankheit herunter: „Ich verspreche euch: Solange ihr bei mir seid, kann ich alles aushalten, so lange habe ich vor gar nichts Angst. Wir kriegen das hin. Das Wichtigste ist, das wir zusammenhalten.“ Leider vergisst sie dabei, dass ihre beiden Kinder keine Erwachsenen sind, denen man die gesamte Verantwortung und Pflege auferlegen kann. So spitzt sich die Situation in der kleinen Wohnung immer mehr zu.

Es sind vor allem die Kapitel der Vergangenheit, die enorm berühren. Letztendlich vertauschen Mutter und Kinder immer mehr die Rollen – die körperliche Hilflosigkeit der Mutter nimmt zu und aus kleineren Hilfeleistungen der Kinder wird eine allumfassende Pflege mit oftmals entwürdigenden, intimen Momenten. Die Versuche des Bruders, professionelle Hilfe hinzuzuholen, werden von der Mutter rigoros abgeblockt, weil sie befürchtet, dass man ihr die kleine Tochter dann entziehen würde. Während Anne sehr loyal gegenüber der Mutter bleibt, wird beim älteren Kai zunehmend der Drang nach Freiheit spürbar. Diese Dynamik arbeitet die Autorin fein und konsequent aus, so dass man bei allem Mitleid mit der Mutter auch sehr deutlich deren Übergriffigkeit verspürt und verurteilen muss.

Es ist erschreckend und faszinierend zugleich, wie sich manchmal, sobald jemand Spezielles aus der Vergangenheit anklopft, eine Tür öffnet.S. 111

Damit können die Kapitel der Gegenwart nicht auf gleicher Höhe mithalten. Anne entschließt sich widerwillig, dem Bruder zu helfen, der aus einer Entzugsklinik entlassen wurde und eine Unterkunft über das Wochenende braucht. Dass die beiden dann in Annes Auto von einer sehr bewegungsunfreudigen Schafsherde eingeschlossen werden und Anne auf kleinstem Raum einer Aussprache nicht aus dem Weg gehen kann, gibt die Möglichkeit, teilweise Kais Perspektive der Vergangenheit zu erfahren. Er befreite sich damals aus der erdrückenden Situation und hat ein Leben mit Suchterkrankungen und Obdachlosigkeit geführt. Während man in der Vergangenheit direkt dicht am Geschehen war, bekommt man nun leider nur Berichte und Rechtfertigungen über die Kindheit und die Jahre seit dem Kontaktabbruch. Auch wenn man Kai bemitleidet, der viel zu früh die Verantwortung für Mutter und Schwester tragen musste – der direkte Bezug zu dieser wichtigen Figur bleibt schwach.

Zumindest werden alle Fäden der Geschichte aufgenommen, der Grund für den Bruch zwischen den damals so vertrauten Geschwistern wird offenbart. Was jedem Lesenden überlassen bleibt, ist, die Verbindung zwischen der Vergangenheit und der heutigen Persönlichkeit von Anne zu knüpfen. Reflektiert beschreibt sie sich als Gürteltier, das dicke, starke Knochenplatten als Panzer hat, der sie vor der unerträglichen Gleichzeitigkeit unvereinbarer Gefühle schützen soll. Wird man so gefühllos und möglichst emotionslos, wenn man seine Kindheit an die Pflege der Mutter verliert? Wenn man nahezu isoliert von anderen in einer problematischen Situation gefangen ist? Und wenn man dann die beiden wichtigsten Menschen aus seinem Leben verliert?

Fazit:

Janine Adomeits Roman „Die erste halbe Stunde im Paradies“ macht auf berührende Art das ganze Dilemma deutlich, wenn Angehörige – und erst recht Kinder – die schwere Krankheit einer Person auffangen wollen oder vielmehr auch gezwungenermaßen auffangen müssen. Dass die Geschichte dabei sehr eng an Anne als Hauptfigur bleibt, ist eine Entscheidung der Autorin, mit der man als Lesende etwas hadern könnte: Auch die Motive der Mutter und des Bruders wären sehr spannend gewesen und bleiben so leider eher indirekt vermittelt oder offene Stellen in der ansonsten sehr spannenden und sehr gut lesbaren Handlung.

Wertung: 13/15 dpt

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