Susanne Gregor – Halbe Leben (Buch)

Schon nach den ersten beiden Sätzen weiß man, wie der Roman „Halbe Leben“ enden wird: „Es ist ein stiller Tod. An einem sonnigen Mainachmittag um vierzehn Uhr siebenunddreißig stürzt Klara an einer unscheinbaren Böschung fünfzig Meter in die Tiefe.“ Klara ist eine erfolgreiche Architektin, verheiratet, Mutter einer Tochter und schwanger mit ihrem zweiten Kind. Seitdem ihre Mutter Irene einen Schlaganfall hatte, lebt Pflegekraft Paulína in ihrem Haushalt und betreut diese rund um die Uhr. Und Paulína ist die einzige, die Klara auf der todbringenden Wanderung begleitet hat.

Mehr als eine Dreiviertelstunde hat Paulína gebraucht, um den kurzen Weg zu einer Lichtung zurückzulaufen, auf der sie Handyempfang für den Notruf bekommt. Direkt nach dem Unfall kehrt sie in ihre Heimat in die Slowakei zurück und nimmt keine Anrufe des Witwers mehr entgegen. „Es liegt kein Motiv vor, man lässt den Tod als Unfall gelten. Niemand zweifelt an dieser Version der Geschichte.“ Mit wenigen, aber sehr fein platzierten Worten hat Autorin Susanne Gregor auf den ersten drei Seiten einen psychologischen Spannungsbogen für ein gesamtes Buch geschaffen. Diesen präzisen Stil wird sie auf 189 Seiten beibehalten.

Dabei ist „Halbe Leben“ bei weitem kein Krimi, in dem es um die Auflösung des Todesfalls geht. Es geht vielmehr um die Beziehung und Dynamik zwischen Klara und Paulína. Klara ist eine Frau, der die Karriere und ihr luxuriöses Leben sehr wichtig sind. Als Architektin ist sie enorm eingespannt in ihre Arbeit – und genießt und braucht dies auch. Sie gibt den Ansprüchen ihres Jobs immer Vorrang, sowohl vor der eigenen Tochter als auch der eigenen Mutter. Paulína wurde von einer Agentur als Pflegekraft vermittelt und lässt ihre beiden Söhne in der Slowakei jeweils für zwei Wochen bei der Ex-Schwiegermutter, um sich in Österreich um Irene zu kümmern. Nach der Scheidung ist das Geld knapp, und die Anstellung bei Klaras Familie gibt der gelernten Krankenschwester die Möglichkeit, eine finanzielle Sicherheit zu erlangen – wenn auch zu dem hohen Preis, ihre Söhne zurückzulassen und nicht immer für sie da sein zu können, wenn es notwendig ist.

Während ihrer Fahrten zu Baustelle der alten Villa und zurück fragt sie sich, ob Paulína ihr etwas nachträgt, ist sich aber keiner Schuld bewusst. Wir haben sie immer gut behandelt, denkt sie, und Gefallen außerhalb des Vertrags immer großzügig kompensiert. Dennoch scheint in der letzten Zeit etwas aus dem Gleichgewicht geraten zu sein.

Doch was für eine Beziehung ist das eigentlich zwischen einer Angestellten, die ihre eigenen Bedürfnisse immer hintenanstellen muss, und einer reichen Familie, die sich mit kleinen zusätzlichen Geldgeschenken und ohne schlechtes Gewissen eine Versorgung der dementen Mutter erkauft? Kann aus so einem Verhältnis eine Freundschaft entstehen? Gehört jemand, der zwei Wochen lang Tag und Nacht im Haus lebt und die demente Mutter betreut, irgendwann zur Familie? Über lange Zeit wird dieser Zustand in der Schwebe bleiben und für psychologische Spannung sorgen. Paulìna kocht unaufgefordert auch für Klara und ihren Mann Jakob, kauft ein und hilft – eher gedrängt, als freiwillig – bei Feiern im Haus. Klara bietet ihr großzügig aussortierte Kleidung an, die Paulína innerlich nur ungerne anprobiert. Für kleine Zusatzaufgaben findet Paulína in ihrem Zimmer regelmäßig Briefumschläge mit einer finanziellen Anerkennung für die Sondereinsätze, die sie eigentlich nicht machen müsste. Sind das noch Freundschaftsdienste oder Übergriffigkeiten der Arbeitgeber? Oder sollte Paulína über die überwiegend herzliche und dankbare Aufnahme in die Familie glücklich sein? Ist es gerecht, dass Paulína im Zwei-Wochen-Rhythmus auf ihr Leben verzichtet, damit Klara ihr eigenes Leben so führen kann, wie sie will?

Es ist erstaunlich, wie viele detaillierte und auf den Punkt gebrachte Begegnungen und Entwicklungen Susanne Gregor auf den nur 189 Seiten unterbringt, ohne dass es überfrachtet oder ermüdend wirkt. Selbst die Kindheitsgeschichten von Mutter Irene, Klara und Paulína, die Beschreibung von Radek, dem kleinen, grauen Mann, der sich bei der Betreuung mit Paulína abwechselt, die Charakterisierung der Ehemänner von Klara und Paulína und vor allem die Demenz von Irene sind Mosaiksteinchen, die sie geschickt einbaut. Und jedes dieser Mosaiksteinchen ist auch tatsächlich für das Gesamtbild aufschlussreich.

Fazit:

„Halbe Leben“ von Susanne Gregor ist ein enorm dichter, psychologisch ausgefeilter Roman, bei dem jedes Wort sitzt. Jedes der Themen – von der Arbeitssituation von ausländischen Pflegekräften über Demenz im Alter, von der Beziehung zwischen Eltern und Kindern bis hin zur Work-Life-Balance, die bei allen nicht im Gleichgewicht ist – hat nicht nur seinen Platz in diesem schmalen Buch, sondern auch die erforderliche Tiefe.

Wertung: 15/15 dpt

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