Chronik einer Radikalisierung
Zu Beginn von „Parts Per Million“ leidet die erfolgreiche Autorin Johanna Stromann unter einer kreativen Krise. Ihr fehlt eine spannende Idee für ihren nächsten Roman. Auf einer Autofahrt durch München gerät sie in einen Verkehrsstau, den Klimaaktivist:innen mit einer Protestaktion verursachen. Andere Autofahrende halten sich gar nicht damit auf, die Polizei zu verständigen. Sondern schlagen direkt auf die Protestierenden ein. Johanna stellt sich auf ihre Seite und kommt ins Gespräch. Und hat ein Thema für ihr neues Buch gefunden.
Die Recherche führt Johanna zu Marcus Heller, einem Urgestein in der Klima-Bewegung. Er überredet sie an einem Klima-Camp in Hamburg teilzunehmen. Johanna priorisiert normalerweise die Care-Arbeit für die Familie. Doch ihr Ehemann Stefan und Tochter Finja nehmen kaum zur Kenntnis, dass sie ihr Heim für eine Woche verlassen wird.
Als überzeugte Aktivistin mit „Wir“-Gefühl kehrt Johanna nach München zurück. Auf einer weiteren Demo erlebt sie, wie eine Demonstrantin getötet wird. Als die Klima-Bewegung verboten wird, trifft Johanna die Aktivist:innen in Berlin. Und als ihr Ehemann Stefan sie schließlich aus ihrem Zuhause wirft, bleibt ihr nur noch der Untergrund. Und die Gewissheit, dass Gewalt mehr ist als nur eine Option, um sich gegen den klima- und menschenfeindlichen Staatsapparat zu wehren. Sondern eine Notwendigkeit – und zugleich Erfüllung.
Oder – wie aus friedlichem Protest Gewalt wird
Die Geschichte um die Autorin Johanna und die Aktivist:innen-Gruppe „Part Per Million“ spielt in einer alternativen Gegenwart. Deutschland wird nach dem Scheitern der Ampel-Koalition von Union und AfD regiert. Der Ausbau sämtlicher Klimaschutzmaßnahmen kommt zum Erliegen, fossile Energien erleben einen erneuten Boom. Menschen, die gegen den forcierten Klimawandel demonstrieren, werden lächerlich gemacht, angegriffen, kriminalisiert. Theresa Hannig stellte jedem Kapitel eine Presseschlagzeile und ein paar Zeilen eines Artikels voran, die verschiedene Klimakatastrophen und Wetterextreme beschreiben. Schnell wird klar, dass es sich dabei um reale Schlagzeilen handelt, am Ende des Romans liest man die entsprechenden Quellennachweise. Dieses Nebeneinander von Fiktion und Realität ist ein wirkungsvolles Stilmittel, das ein Bewusstsein dafür schafft, wie nah der fiktive Klima- und Demokratiekollaps der Story und die gegenwärtige Situation in Deutschland bereits beieinander liegen.
Am Beispiel der Aktivst:innen-Gruppe zeichnet Theresa Hannig das Bild einer sich radikalisierenden Bewegung. Den Anfang machen Blockaden auf Straßen, auf die mit Unverständnis, Wut und Gewalt reagiert wird. Die Frage nach den Gründen und der Verzweiflung, die zu diesen Protesten führen, scheint sich kaum noch jemand zu stellen. Aus dem friedlichen und vergeblichen Protest erwächst ziviler Ungehorsam. Benzinschleudern wie SUVs werden kurzerhand lahmgelegt, indem Aktistist:innen die Luft aus den Reifen ablassen. Es endet bei Gewalt bis hin zur Folter gegen aktive Klimakiller, wie Bosse von Unternehmen, die besonders klimaschädlich produzieren, oder mächtige Personen, die sich für klimaschädliche Politik stark machen. Die Geschichte der RAF lässt hier grüßen.
Gelungen dargestellt sind Diskussionen und Kontroversen, die diese Entwicklungen einer zunehmenden Radikalisierung begleiten. Als Konsens kristallisiert sich heraus, dass sich die Klimaaktivist:innen in einer existenziellen Notlage fühlen und nur noch der radikale Weg übrigbleibt, um einen Umschwung in der Klimapolitik und dem gesellschaftlichen Bewusstsein zu erreichen. Alle anderen Mittel scheinen ausgeschöpft.
Wie glaubwürdig ist die Motivation der Protagonistin?
Dieser innere Monolog zeigt, wie das Eheleben der Protagonistin Johanna aussieht. Allerdings verwendet Johanna das falsche Personalpronomen: nicht er (gemeint ist ihr Ehemann Stefan) lebt in einer Fünfziger-Jahre-Familie. Sondern sie selbst. In Punkto Selbstbestimmung und Emanzipation ist sie auf dem Stand in der Mitte des 20. Jahrhunderts stehengeblieben: Familie und Ehemann gehen stets vor, eigene Interessen, wie ihre Arbeit als Autorin gelten als Hobby. Dabei bringen ihre Bücher durchaus Geld ein. Und möchte Johanna es so? Obschon sie diese Situation beklagt, verteidigt sie immer wieder ihren selbstverliebten und egozentrischen Ehemann. Zunächst ist der Klimaaktivismus eine coole Idee für ihr neues Buch, dann eine Möglichkeit dem attraktiven Marcus näherzukommen, schließlich der Lebensraum, der übrig bleibt, nachdem ihr Ehemann sie vor die Tür gesetzt hat. Gleichwohl sie sich vehement für die radikaleren Ziele der Gruppe ausspricht, nimmt man ihr ein wirkliches Interesse am Thema Klimaschutz einfach nicht ab. Johannas Weg in den Klima-Aktivismus wirkt wie eine Flucht aus ihrem bisherigen Leben.
Darüber hinaus kommen Johannas Beziehungen zu Männern irgendwie cringe herüber und nehmen erstaunlich viel Raum ein. Raum, den die Geschichte besser hätte nutzen können für eine glaubhafte Entwicklung der Protagonistin. Oder für eine differenziertere Bestandsaufnahme der Klima-Aktivist:innen-Szene am Ende ihrer Entwicklung. Wie beschrieben passen Aktionen des zivilen Ungehorsams oder die professionelle Öffentlichkeitsarbeit der Parts Per Million gut zu ihrem Werdegang. Doch das Finale vereitelt dies mit einer mehr als hanebüchenen und unnötig dilettantischen Aktion, die einfach nicht ernst zu nehmen ist.
Fazit
„Parts Per Million“ von Theresa Hannig wurde als „Bestes Buch“ mit dem Phantastik-Literaturpreis SERAPH 2025 ausgezeichnet. Ich hatte mir den Roman nach der SERAPH-Verleihung gekauft und mich sehr darauf gefreut. Doch nach der Lektüre kann ich die Wahl der Jury leider nicht nachvollziehen. Dabei ist das Thema Klimawandel, Demokratieabbau und gesellschaftlicher Rechtsruck brennender und aktueller denn je. Den Bezug zu den realen Ereignissen unserer Zeit stellt „Part Per Million“ tatsächlich allzu deutlich her. Doch die Entwicklung der Protagonistin Johanna überzeugt nicht, sondern wirkt klischeehaft und absolut unglaubwürdig. Was leider auch für die Nebenfiguren, wie den Ehemann und die Klimaaktivist:innen gilt. Und so gehen die guten Ansätze in einem Geflecht aus merkwürdigen Beziehungen unter, mit Figuren, die unnatürlich überzeichnet wirken. Meine Leseempfehlung zum Thema gesellschaftlicher Wandel in Zeiten des von Menschen verursachten Klimawandels bleibt das in „Parts Per Million“ referenzierte „Das Ministerium für die Zukunft“ von Kim Stanley Robinson.
- Autorin: Theresa Hannig
- Titel: Parts Per Million
- Verlag: TOR
- Erschienen: 09/2024
- Einband: Klappenbroschur
- Seiten: 368
- ISBN: 978-3-596-70891-8
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