Berthold Seliger – Das Geschäft mit der Musik – Ein Insiderbericht (Buch)


Berthold Seliger - Das Geschäft mit der Musik (Buch) Cover © Edition TiamatBerthold Seliger ist Konzertagent und Autor und lebt in Berlin. Er betreibt seit fünfundzwanzig Jahren eine eigene Konzertagentur; Seliger ist Europaagent für Künstler wie Calexico, Lambchop, Pere Ubu, The Residents, Tortoise, The Walkabouts und viele andere mehr. Vor allem aber arbeitet er als deutscher Tourneeveranstalter mit Künstlern wie Patti Smith, Van der Graaf Generator, Lou Reed oder Youssou N’Dour zusammen. Zudem veröffentlicht er einen monatlichen Newsletter, der sehr nachvollziehbarerweise bereits 2003 mit dem “Mersha Award” des Musikexpress, Rolling Stone und Metal Hammer (Springer) für den »besten Newsletter« der Musikbranche ausgezeichnet wurde. Vor kurzem mussten die Bezieher besagten Newsletters mit Grausen das Folgende lesen:

»Die Konzertagentur Berthold Seliger wird zum Jahresende schließen, die Firma wird zum 31.12.2013 nach 25 ½ Jahren abgemeldet. Um gleich etwaigen Gerüchten deutlich entgegenzutreten: diese Firma ist wirtschaftlich äußerst gesund, das laufende Geschäftsjahr wird zu den zwei oder drei besten Jahren der Firmengeschichte gehören, und auch 2012 war ein sehr gutes Jahr. Und: Berthold Seliger erfreut sich im Rahmen der Möglichkeiten eines nicht mehr ganz jungen Mannes bester Gesundheit und ist guter Dinge.

Die Gründe, warum ich meine Firma schließe, sind, wenn man so will, gesellschaftlicher, geschäftspolitischer wie auch privater Natur. Im Wesentlichen gründet die Entscheidung, diese Firma zu schließen, auf der Erkenntnis, dass das “Geschäft mit der Musik” sich im letzten Jahrzehnt massiv in die falsche Richtung entwickelt hat und sich für eine kleine Agentur wie diese immer weniger Einflussmöglichkeiten ergeben, die Richtung des Schiffes mitzubestimmen. Einige wenige weltweite Monopole dominieren den gesamten Musikmarkt, ob es die Tonträgerfirmen oder das Live-Geschäft angeht. Die Vielfalt der Kultur ist längst in Gefahr, während Konzerne zum Beispiel mit Konzerten den größten Profit machen, ohne mit den Konzerten überhaupt etwas zu tun zu haben – ich spreche von den Ticketing-Firmen, die mit ihren absurden Gebühren mehr verdienen als die Künstler und die Kulturarbeiter, die das alles auf die Beine stellen. “World gone wrong”, um es mit Bob Dylan zu sagen. Doch diese falsche Entwicklung findet sich auf allen Ebenen. Wir sind nicht nur im Zustand der “marktkonformen Demokratie”, wie sie Frau Merkel propagiert, nein, wir bewegen uns längst auch in einer marktkonformen Kultur. Man möge mir verzeihen, aber mich interessiert die Frage, um die in unserem Geschäft längst alles kreist, nämlich “wie viele Tickets verkauft die Band xyz?”, “wieviel Profit kann ich mit Kultur machen?”, deutlich weniger als die Frage der Qualität der Musik, die eine Band spielt. Die erste Frage aller Musik ist – taugt die Musik etwas? Kann diese Musik die Welt bewegen? Und dann erst kommt die (natürlich auch wichtige) Frage, wie man mehr Tickets für die Konzerte der jeweiligen Band verkaufen kann. Es kommt auf die Prioritäten an. Doch über Inhalte wird immer weniger gesprochen, das “modern talking” geht über Profite, über Marketing, über Brands statt über Bands.

[…]

Sie können meine Analyse der Lage des “Geschäfts mit der Musik” in meinem Insiderbericht, im dieser Tage bei Edition Tiamat erschienenen gleichnamigen Buch im Detail nachlesen«

Genau das hatten wir in den Wochen zuvor getan – mit äußerstem Vergnügen, denn Seliger ist ein leidenschaftlicher Liebhaber der Musik, der daraus das Recht ableitet, die Industrie, die ihren Namen voranträgt, zu geißeln – fortiter in re, suaviter in modo. Die Geschäftsaufgabe (Seliger macht in kleinstem Rahmen weiter, wie er verspricht: Ein Mann, ein Raum, E-Mail-, aber kein Telefon-Anschluss) unterstreicht in letzter Konsequenz, wie ernst es ihm mit dieser Abrechnung war.

Wohl nirgendwo sonst findet der Interessent eine so umfassende und kenntnisreiche Bestandsaufnahme des Geschäfts mit der Musik in allen ihren Aspekten: Live-Business (aus Sicht der Künstler, der Agenten, Veranstalter), Tonträger, Rechte-Verwaltung (Copyright, DRM, Gema u. die Alternativen), Musikjournalismus und –medien sowie schließlich die Rolle der Politik (Staatspop, Förderungs(un)wesen).

Eine zentrale Erkenntnis: Wo andere, jüngere Märkte – wie beispielsweise die Hardware-Seite des Mobile Business’ – derzeit noch umkämpft, fragmentiert und zersplittert sind, ist dieser nahezu komplett gleichgeschaltet und sauber verteilt auf drei wesentliche Säulen: Ende 2012 hatten Universal 39, Sony 23 und Warner 15 Prozent vom Tonträgergeschäft (S. 11). Beim Geschäft mit Liveauftritten sieht es oberhalb der Kneipen- und Jugendzentrumsszene ähnlich aus: »nur noch zwei große Agenten- u. Managementfirmen konkurrieren um die Vorherrschaft im Markt.« […] »Live Nation und Ticketmaster haben vor wenigen Jahren fusioniert – der größte Konzertveranstalter im Bett mit dem größten Ticketverkäufer der Welt.« […] »Hierzulande ist der börsennotierte Konzern CTS Eventim der Marktführer in der Rolle eines Quasi-Monopolisten.”« (S. 11); Neben Marek Lieberberg gehören auch Peter Rieger Konzertagentur, Semmel Concerts u. FKP Scorpio dazu: »Nicht nur wesentliche Teile des deutschen Tour- und Konzertgeschäfts, sondern auch der größte Teil der hiesigen Festivallandschaft befindet sich damit praktisch in der Hand eines einzigen Konzerns« (S. 87) – nämlich 16 von 20 der größten in Deutschland (S. 99). Diese weltweite Konzentration belegt der Veranstaltungsprofi noch für viele andere Länder wie beispielsweise die Niederlande und Belgien (S. 63) und verdeutlicht, wie in diesem Zuge die Konzertindustrie von den Plattenfirmen die Führungsrolle übernahmen (S. 68) – denn »Das eigentliche Geld wird immer weniger mit der Musik verdient, dafür aber immer mehr mit den Nebenrechten, von Merchandising bis Sponsoring. Vor allem aber mit dem Ticketing.« (S. 71).

[Übrigens sieht es in zumindest verwandten Branchen kaum besser aus: »… beherrschen in Deutschland drei Verlagsgruppen etwa 80 Prozent des Buchmarkts.« (S. 14)]

Seliger glaubt, dass »große Musik seit über zweihundert Jahren im Wesentlichen durch Dissidenz geprägt ist« (S. 19), dass das obwaltende System Dissidenz jedoch nicht nur nicht vorsieht, sondern effizient bekämpft.

Um dies zu belegen, wird zunächst erklärt, wie das System tatsächlich funktioniert, welche Rollen und Funktionen es gibt, zum Beispiel Agent, Tourveranstalter, “Örtliche” etc. – so erfährt man beispielsweise, welcher Part bei Tourneen für die Künstlergage aufzukommen hat und unter welchen Risiken und Bedingungen (S. 39) oder was genau ein “360-Grad-Deal” bedeutet (S. 65). Man erfährt, wem die Lanxess Arena in Köln gehört, wie viel vom Ticketpreis tatsächlich beim Künstler landet und warum sich kleinere Konzerte meist nur als Investition in die Zukunft rechnen. Wir erfahren die Hintergründe der Preisentwicklung bei Konzertkarten – und wer da so an der Schraube dreht, dass bei den Rolling Stones ein VIP-Ticket bis zu 2.000 Dollar kostet (S. 115). Die Rolle der Charts (S. 124) wird ebenso beleuchtet wie die seitens der Industrie kontrollierten Branchenverbände und deren Studien (S. 128 ff.) oder dem “Tod der CD” (S. 156) als zentralem Medium des Musikkonsums.

Doch der Autor macht diese Mechanismen und teilweise Fehlentwicklungen nicht nur mit Skalpell und Mikroskop dem Verständnis zugänglich, er bietet auch konkrete Gegenentwürfe an, etwa: Fünf konkrete Thesen zum Urheberrecht (S. 187-191) und vor allem solche Erkenntnisse: »Was die Zeitkultur wirklich braucht, ist eine systematische Spielstättenförderung.« (S. 319).

Der Band versammelt mehrere andernorts bereits erschienene Beiträge. Dies wirkt sich bisweilen bei der Aktualität aus. Damit ist noch weniger die alte Rechtschreibung gemeint, an der Autor und Verlag festhalten. Sondern so etwas hier: Seliger beschreibt noch die Kooperation von Apple mit Live Nation im Social Network Ping (S. 70), welches aber bereits 2012 wieder aufgegeben wurde.

Auf Seite 134 heißt es: »bis heute existieren jenseits von Amazon und Apple (iTunes, der Durchbruch des Micropayments, d. Red.) keine komfortablen und brauchbaren Bezahlmodelle«. Spotify (Streaming im Abo), Grooveshark, Bandcamp (Paypal) & Co. finden hier noch keine Betrachtung, Ampya nur kursorisch (S. 168).

Dennoch: Das Beste Buch zum Musikmarkt seit langem. Obwohl der “Insiderbericht” vor Fakten birst, liest er sich spannend. Obschon der Musikliebhaber oder -profi mit reichlich unangenehmen Themen konfrontiert wird, können beide ihn mit einem gewissen grimmigen Vergnügen rezipieren.

 Cover © Edition Tiamat/Reihe Critica Diabolis

Wertung: 14/15 dpt


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