Warum liest man Tagebücher? Die Antwort des Essayisten: Er gibt keine Antworten – er gibt Beispiele und der Leser mag seine eigene Antwort finden. Michael Maar, seines Zeichens Germanist und Autor wirklich kluger Bücher wie “Das Blaubartzimmer”, macht das, was eines Essayisten würdig ist – er mäandriert in seinem Essay “Heute bedeckt und kühl. Große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf” herum, umkreist des Pudels Kern, ohne ihn je zu erreichen, erreichen zu wollen. Doch gerade das ist diesem Buch hoch anzurechnen.
Wohlgemerkt: Wir haben es hier mit einem Essay, nicht mit Politik zu tun, insofern sei das Zaudern, das Beleuchten seines Untersuchungsgegenstandes von vielen Seiten und anhand zahlreicher klug ausgewählter Beispiele aus dem Textkorpus unzähliger Tagebücher erlaubt, wenn nicht gar erwünscht.
Literarische Tagebücher – die „Frau im Spiegel“ des Akademikers?
Zwei Fragen halten diesen Essay zusammen und geben ihm seine äußere Ordnung: Warum schreiben Menschen Tagebuch? Und Warum überhaupt lesen wir die Tagebücher “fremder” Menschen? Böse formuliert könnte man auf zweite Frage antworten, dass dem Akademiker, dem die “Bild”, “Bunte” und “Frau im Spiegel” von Berufs und des Selbstkonzepts wegen fremd bleiben müssen, nichts anderes übrig bleibt, um an wildem Gossip, bestürzenden Geständnissen, Verleumdungen und wilden Beziehungsverwicklungen Teilhabe zu empfinden. Und tatsächlich scheinen dies auch einige Tagebücher zumindest in Teilen zu liefern: Virginia Woolfes Hassliebe gegenüber Katherine Mansfield, Anaïs Nins libidinöse Geständnisse über ihre Affäre mit Henry Miller oder natürlich der Groß-Klassiker schlüpfriger Details: Thomas Mann, über dessen innersten Kämpfe und Schmerzen man in seinen Tagebüchern ebenso erhellende wie überraschende Kenntnis erhält wie über tagesaktuelle Wettermeldungen, Magenprobleme und seine Männer-Unterbekleidungsgröße – besondere Überraschungen bietet auch, kaum einer hätte es für möglich gehalten, Theodor W. Adorno, ja eben jener, der seiner Frau seine nicht ganz jugendfreien Elaborate niederschreiben ließ und der Welt, neben vielem anderen natürlich, eine schlüpfrige Rätselaufgabe hinterließ.
Große Geschichte in den – manchmal – kleinen Augen großer Dichter
Die Sensationslust wird also in den Tagebüchern durchaus bedient und zeigt zahlreiche Koryphäen von ihrer menschlichen Seite. Die posthume Bekanntheit so mancher Romanciers verdanken selbige weniger ihrer belletristischen Werke als eher ihren Tagebüchern. Aus so manchem Tagebuch lassen sich besser als aus Geschichtsbüchern Zeitläufte intensiver und mit stärkeren sprachlichen Bildern versehen, eruieren. Warum und welche Zufälle Anteil daran haben, dass Europa heute noch vorwiegend christlich geprägt ist, zeigen die von Maar herangezogenen Tagebuchaufzeichnungen zur Zeit der Belagerung Wiens durch die Türken. Dass unser immer noch gebräuchlicher Sinn, den wir der Geschichte aufstülpen, das größte Missverständnis der Geschichte ist, das ließe sich an den Tagebucheinträgen wunderbar illustrieren.
Eine wahre Fundgrube
Michael Maar hat hier eine wundervolle Fundgrube gegraben und viele spannende Fährten gelegt, AutorInnen dabei ausgegraben, die es mal wieder freizulegen und zu entdecken gilt. Neben Brigitte Reimann könnte Max Frisch so jemand sein, dem man den manchmal bösen und zynischen Humor, dem er in seinen Tagebüchern frönt, kaum zugetraut hätte. Als die ersten Todesfälle, ausgelöst durch das HI-Virus in der deutschsprachigen Presse aufkamen, notierte Frisch lapidar: »Eros und Thanatos – in Amerika heißt das ‘casual sex’«. All jenen, die den Hype um Wolfgang Herrndorf nie verstanden haben, sei unbedingt die Lektüre seines Online-Tagebuches empfohlen – was Herrndorf unter dem Titel “Arbeit und Struktur” vor dem Hintergrund seiner schweren Krankheit über sein Leben, sein Schreiben und seinen Überlebenskampf, den er verloren?, auf alle Fälle aber am 26. August 2013 selbst beendet hat, schreibt, gehört zu den luzidesten Texten der Gegenwartsliteratur, die eindrucksvoll unterstreichen, welch origineller Autor Wolfgang Herrndorf war.
1-2-3 Haare in der Suppe
Ein kleines Haar allerdings lässt in Michael Maars Essay dennoch finden, fällt er an zwei Stellen aus der Rolle des analytischen Essayisten und verfällt in einen dozierenden Ton, der erstens, zweitens, drittens lehrt warum wir Tagebücher lesen und warum andere Tagebücher schreiben. Dies allerdings passiert nur an zwei Stellen, die wohl auch daher rühren, dass dieses Buch aus einem Vortrag erwachsen ist. Ach ja, vielleicht gibt es noch ein zweites störendes Haar, das sich anbringen ließe. Und das hat wieder mit dem Ton zu tun. Diesmal allerdings nicht mit einem dozierenden sondern einem leicht lamentierenden. Der stellt sich ein, wenn Maar auf die Online-Tagebücher und Blogs zu sprechen kommt und den Charme der fehlenden Handschrift des Autors beklagt. Aber geschenkt. Germanisten waren, sind und werden immer bis in alle Ewigkeit bleiben: Nerds.
Was am Ende bleibt: Die Lustmachung
Man liest von weitaus berufenerer Steller als der meinigen, es fehlten wichtige Tagebücher, aber diesem Einwand ist hier nicht stattzugeben – geht es doch um nichts weniger als die Lustmachung auf das Lesen von Tagbüchern. Da dies keine Enzyklopädie ist, fehlt immer irgendein Tagebuch irgendeiner Schwester oder irgendeines Onkels. Was aber nicht fehlt – das ist eben das große Verdienst dieses Buches, das über Literatur spricht: Es macht Lust, sich selbst diese Tagebücher vorzunehmen und in ihnen zu lesen, Autoren, Abenteurer und den Alltag, den heimlichen Start aller Tagebücher, von einer anderen Seite zu betrachten und vielleicht auch wieder neu zu entdecken – und was mehr als dies, vermag germanistische Literatur zu leisten?!
Cover © C. H. Beck Verlag
- Autor: Michael Maar
- Titel: Heute bedeckt und kühl. Große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
- Verlag: C. H. Beck
- Erschienen: 09/2013
- Einband: Gebunden
- Seiten: 257
- ISBN: 978-3-406-65353-7
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 12/15 dpt