Sabrina Železný – Kondorkinder (Buch)


Durch die Geschichte, Gegenwart und Mythologie Perus

Kondorkinder © Art Skript Phantastik

Sabrina Železnýs Roman „Kondorkinder“ erschien bereits 2013 und 2014 als Dilogie im Mondwolf Verlag. Als der kleine Verlag seine Pforten schloss, drohte der Roman um mythologische Geschichten aus Peru in der Versenkung zu verschwinden. Doch Grit Richter und ihr Art Skript Phantastik Verlag verliehen ihm erneut Flügel und die „Kondorkinder“ erhoben sich in die Lüfte. Sie flogen im Jahr 2022 in die Long- und Shortlist des Phantastikpreis der Stadt Wetzlar und schließlich auf den Platz des Gewinnertitels. Allein das ist schon ein guter Grund, „Kondorkinder“ zu lesen. Denn der Phantastikpreis der Stadt Wetzlar zeichnet stets besondere Bücher abseits des Mainstreams aus. Doch es gibt noch mehr gute Gründe.

Es ist keine leichte Aufgabe, die auf dich wartet [..]. Und sie ist langwierig. Du wirst Jahre und Jahre des Lernens brauchen. Und wenn das Buch geschaffen ist, braucht es weitere Jahre, in denen du die Geschichten zähmst, wo immer du ihnen begegnest [..].Sie sind Vicuñas, die frei im Hochland der Puma jagen, keine Lamaherde, die sich zwischen Dorfmauern drängen will. Doch ebenso wie Vicuñas sind sie auch scheu und du wirst ihr Vertrauen erst gewinnen müssen. S. 125

Vier Menschen, zwei Zeitepochen und ein Fluch

Es beginnt mit einem Fluch, der in den Seiten des Spiegelbuchs auf jemanden lauert, der dieses wider seiner Bestimmung verwendet. In der Mitte des 18. Jahrhunderts wächst der Junge Yawar im Andenhochland Perus bei seiner Mutter Yanakachi heran. Die Familie bekommt Besuch von den Kondorkindern, einer Rebellengruppe des Orts, in dem Yanakachi mit ihrem Ehemann lebte. Er war der Yuyak, der Bewahrer der Geschichten der Indios und Hüter des Spiegelbuchs. Llanthu starb und Yanakachi floh, um ihrem Sohn dieses Schicksal zu ersparen. Als nun Menschen aus ihrer Vergangenheit und das Spiegelbuch zu ihr kommen, begeht sie eine Verzweiflungstat: Sie zerstört das Buch und wird mit dem Fluch eines Apus (Berggott) bestraft. Langsam wird das Leben aus ihr herausfließen, wenn nicht ein neues Spiegelbuch erschaffen und mit Geschichten gefüllt wird.

Padre Valentin bringt Yawar nach Arequipa zum Buchbinder Don Elisendo Goyeneche. Der Junge erweist sich als gelehriger Schüler und treuer Freund Isabels, der Tochter seines Meisters. Als sich Yawars Lehrzeit dem Ende naht und sein Gesellenstück fertig ist, droht die Trennung von Isabel. Denn zu seiner Mission, die den Fluch von seiner Mutter lösen soll, gehört nicht nur die Erschaffung des Spiegelbuchs, sondern auch die Suche nach Geschichten.

Im Berlin des frühen 21. Jahrhunderts arbeitet Studentin Malinka in der Uni-Bibliothek. Zwei Aufgaben hat sie zugleich zu erledigen: die Sichtung eines Bücherstapels aus der Falkenhayn-Sammlung, und die Bedienung eines ungeduldigen Kunden, den sie kennt. Es ist Matteo, mit dem sie beim Magazin YETI zusammengearbeitet hat und der dafür verantwortlich war, dass ihre erste selbstgeschriebene Geschichte nicht gedruckt wurde. Und jetzt klaut er auch noch das oberste Buch vom Stapel, einen in türkisblaues Leder gebundenen Folianten. Seltsamerweise stellt sich der Dieb selbst in Malinkas Wohnung. Und es geht ihm alles andere als gut.

Die Recherche der angehenden Lateinamerika-Wissenschaftlerin kommt zu einem absurden Ergebnis: Ein Fluch hat Matteo erwischt. Aus dessen geplanter Reise mit Freundin Helena wird nichts. Stattdessen fliegt Matteo nach Peru, in Begleitung der vermeintlich verträumten, weltfremden Malinka. Die kennt sich nicht nur bestens in Peru aus und verfügt über ein profundes Wissen zu Land und Leuten. Sie hat auch ihrerseits noch eine Rechnung aus ihrem Austauschjahr in Peru offen und hofft, etwas Wichtiges zurückzugewinnen.

Natürlich, joven, wirst du jede Menge Leute finden, die dir sagen: Das mit den apus ist Aberglaube oder Blasphemie, es gibt nur Gott, Jesus und die Heilige Jungfrau. Aber was soll das? Gott hat viele Namen. Sie haben uns gesagt, dass wir Gott nicht kannten, bevor die Spanier kamen. Was für ein Unsinn. Die Inka und alle, die vorher da waren, kannten Gott oder die Götter. [..] Der katholische Gott hat unsere alten Götter nicht verjagt. Er wollte das auch nie. Nur die Spanier wollten das und die Missionare, aber es ist ihnen nicht gelungen.S. 228

Aus zwei Teilen wird ein rundes Ganzes

„Kondorkinder“ erschien in der ersten Fassung als zweibändige Ausgabe. Der erste Band „Die Suche nach den verlorenen Geschichten“ erzählt Yawars und Isabels Geschichte Mitte des 18. Jahrhunderts. Der zweite Band „Der Fluch des Spiegelbuchs“ erzählt hingegen die Geschichte der beiden Studierenden aus Berlin, Malinka und Matteo. Die Ausgabe des Art Skript Phantastik Verlags führt beide Geschichten zusammen und erzählt abwechselnd Szenen aus dem 18 und 21. Jahrhundert. Eine Karte Perus mit der jeweiligen Orts- und Zeitangabe leitet jedes Kapitel ein, sodass stets klar ist, in welcher Geschichte man sich gerade befindet. Und obwohl die Geschichten sicherlich auch getrennt gut funktionieren, macht diese abwechselnde Erzählweise die Handlung sicherlich dynamischer und spannender. Im Nachwort der Autorin Sabrina Železný erfahren wir, dass sie den Roman ursprünglich so geplant hatte. Man merkt, dass hier zwei Seiten einer Epochen übergreifenden Handlung zu einem vollständigen Ganzen zusammengefunden haben.

Historie und Mythologie gehen Hand in Hand

Der Roman „Kondorkinder“ trägt den Untertitel „Das Spiegelbuch und die verlorenen Geschichten“, was darauf hinweist, dass es hier um die Mythologie des indigenen Volkes geht. Ende des 18. Jahrhunderts und zu Anfang des 21. Jahrhunderts machen sich junge Menschen auf die Suche nach alten und neuen Geschichten mit dem Ziel, sie zu bewahren, zu schützen und zu erzählen. Die Berggötter, Apus, und deren Gehilfen und Vermittler zur Menschenwelt, Mallkus, nehmen zentrale Handlungsrollen in „Kondorkinder“ ein. Darüber hinaus begegnen den Protaginist:inen Geschichten, die sich scheu nähern. Geschichten über die Natur, das Leben und die Liebe in den Anden, aber auch melancholische und brutale Geschichten über Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Tod. Sowohl Isabel und Yawar, als auch Malinka und Matteo befinden sich auf einer herausfordernden Queste. Sie sind Grenzgänger zwischen Mythologie und Historie Perus, indigener und europäischer Kultur. 

Die Hauptfiguren sind sympathisch und mit hohem Identifikationspotenzial angelegt. Vor allem mit Isabel und Yawar fühlen wir mit, denn sie haben beide harte Kämpfe gegen schier unüberwindbare Widerstände auszufechten. Matteo erscheint in seiner überheblichen Art anfangs sperrig und empathielos, was plausibel aus seiner Vita hervorgeht. Mit der Geschichte entwickelt er sich zum mutigen und treuen Freund, der sein Mindset gründlich umsortiert. Er lernt, Dinge anzuerkennen, die er bis dahin nicht ernst nehmen konnte. Malinka ist zunächst als ein Gegenpart zu Matteo angelegt, verträumt und schüchtern, aber auch belesen, gebildet und lebensklug. Ihre Entwicklung in der Geschichte ist weniger intensiv als die Matteos. Allerdings stärkt sie ihr Selbstbewusstsein, als sie ein Trauma der Vergangenheit überwindet. Als Antagonisten sind der Berggott Mismi und sein Gehilfe Usphasonqo angelegt. Doch neben schroffen und grausamen Eigenschaften, offenbaren sie schließlich verständige Charakterzüge. Lediglich eine nur kurz auftretende Figur kommt ausschließlich gemein und brutal herüber. Vielleicht wirkt das Figurenensemble ein wenig zu wohlgefällig, dem einen oder der anderen hätten etwas mehr Kanten gut gestanden.

Fazit

 „Kondorkinder – Das Spiegelbuch und die verlorenen Geschichten“ von Sabrina Železný ist ein Roman, der eine interessante und spannende Mischung aus Märchen, Urban Fantasy und Coming of Age bietet, mit intensiven Ausflügen in die Historie und Gegenwart Perus. Kolonialismus- und Rassismus-Kritik fehlen genauso wenig, wie anregende Passagen über die Kultur, Sprache und Lebensart der indigenen Völker. Hinzu kommen faszinierende Beschreibungen über die Städte und das Hochland Perus, sowie ein feiner Humor mit kleinen Skurrilitäten. Den Kommentaren des naseweisen und leicht sarkastischen Alpakas Chaski konnte zumindest ich nicht widerstehen. 

Leider wird auch der Art Skript Phantastik Verlag zum Ende des Jahres schließen. Sicherlich gibt es noch genügend andere Verlage, die tolle Phantastik-Bücher herausbringen. Aus meiner Sicht allerdings nicht viele, die ihre Bücher so liebevoll und fantasiereich gestalten, wie Art Skript Phantastik. Schaut Euch Anthologien wie „Urban Fantasy going queer“ oder „Steampunk 1851“ und Romane wie „Die Alchemie des Träumens“ und „Kondorkinder“ an und überlegt selbst, wie viele Verlage ihr kennt, die Phantastikliteratur mit mutigen Themen und einer derart hochwertigen Gestaltung herausbringen. Sicherlich wird man einige der Autor:innen, die wir aus dem Art Skript Phantastik Programm kennen, beim ohneohren Verlag, bei der Edition Roter Drache, beim Amrûn Verlag oder beim Bedey Thoms Verlag wiederfinden. Trotzdem wird Art Skript Phantastik in der Szene schmerzlich fehlen. Mir bleibt nur übrig, DANKE, Grit! zu sagen. Und spätestens beim nächsten BuCon einige von den Restbeständen einzukaufen.

  • Autorin: Sabrina Železný
  • Titel: Kondorkinder – Das Spiegelbuch und die verlorenen Geschichten
  • Verlag: Art Skript Phantastik
  • Erschienen: 06/2021
  • Einband: Klappenbroschur
  • Seiten: 576
  • ISBN: 978-3-945045-45-9
  • Sonstige Informationen:
  • Produktseite bei Art Skript Phantastik

Wertung: 12/15 dpt


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