Junichiro Tanizaki – Der Schlüssel (Buch)


Junichiro Tanizaki - Der Schlüssel - Cover © Kein & AberJunichiro Tanizaki zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der modernen japanischen Literatur. Sein Roman „Der Schlüssel“, erstmals 1956 in Japan und 1961 in deutscher Übersetzung erschienen, ist eines seiner wichtigsten Werke. Diese wertvolle Wiederentdeckung, die der Verlag Kein & Aber mit einer Neuauflage würdigt, gilt als Klassiker der erotischen Weltliteratur. Von dieser Zuordnung sollte sich der Leser, der unter Umständen dazu tendiert, das Werk, das seinerzeit durchaus noch für Empörung sorgte, einer eher seichten oder gar ordinären Literatur zuzuordnen, nicht täuschen lassen. Tanizakis Erotik ist eine nie obszöne, dafür aber aufwühlend tiefgründige und psychologisierte, die sich nicht auf das rein Sexuelle beschränkt.

„Der Schlüssel“ ist gewissermaßen ein Familienporträt. Nicht wesentlich länger als 120 Tage lang sind die Seiten zweier Tagebücher das Schlüsselloch, durch das der Leser voyeuristisch Einblicke in die tiefsten Abgründe und Intimitäten, in die niederträchtigsten Intrigen und manipulativsten Täuschungen der Protagonisten erhält. Die Protagonisten, das sind der 56-jährige Professor, der – als ob um seine Nichtigkeit als Individuum zu betonen – als einziger namenlos bleibt und seine Frau, die elf Jahre jüngere Ikuko. Eine zentrale Rolle innerhalb dieses Porträts sowie inmitten aller Niederträchtigkeiten und Intrigen nehmen zudem die Tochter Toshiko und der ihr als zukünftiger Ehemann angedachte Kimura ein.

Alles, was die beiden Eheleute noch miteinander verbindet, ist neben ihrem Ehegelübde die Frustration über ihr Sexualleben. Scham und Konvention verbieten ihnen jedoch das Gespräch darüber. Aus der Überzeugung heraus, dass seine Frau seine Tagebücher heimlich liest, beginnt der Professor daher libidinösen Sehnsüchte und Empfindungen in sein Tagebuch zu schreiben. Und Ikuko tut es ihm gleich.

Wieviel die Protagonisten schlussendlich aus dem Tagebuch des jeweils anderen kennen, bleibt bis zum Ende unklar. Die darauffolgenden Geschehnisse werden aus diesem Grund nie völlig aufgeklärt, komplexe Verstrickungen der Figuren nie gänzlich durchleuchtet. Offenbart werden stattdessen die dunkelsten Seiten der Akteure und es breitet sich mit Fortschreiten der Handlung eine stetig anwachsende tieftraurige und düstere Stimmung über den Roman aus, der nicht anders kann, als seinen Leser beunruhigt zurückzulassen.

In den Tagebucheinträgen kommt die völlig konträre Wahrnehmung und Empfindung von- und füreinander zum Ausdruck. Während der Professor seine Frau, trotz ihrer ihn überfordernden und nur bedingt befriedigenden, da völlig egoistisch motivierten und unstillbaren, Libido, aufrichtig liebt und begehrt, begegnet sie dieser Verehrung mit bloßem Pflichtbewusstsein. Ikuko ekelt sich vor ihrem schmächtigen Ehemann. Verabscheut sein Gesicht, besonders dann, wenn er seine Brille abnimmt. Dennoch: Für die konservativ erzogene Ikuko ist die Aufrechterhaltung ihrer sittsamen und moralischen Fassade das Bedeutsamste in ihrem Leben. Und die uneingeschränkte Erfüllung ihrer ehelichen Pflichten ist Teil dieser Fassade.

Es ist der nicht ganz planmäßige Verlauf eines feuchtfröhlichen Abends, der die Eskalation einleitet, indem er mit einer bewusstlos im Bad liegenden Ikuko endet. Während Ikuko den verhassten Anblick ihres Mannes meidet, kann sich der Professor am Körper seiner Frau gar nicht satt sehen. Ihr bewusstloser Zustand in dieser Nacht ermöglicht ihm erstmals die uneingeschränkte Sicht und Berührung ihres Körpers, die bedingungslose Hingabe an all seine erotischen Obsessionen. Da der Professor zudem nur bedingt Anspruch auf die Exklusivität (des Körpers) seiner Frau erhebt, nutzt er die Präsenz eines anderen Mannes als Aphrodisiakum. Angestachelt von herausfordernder Eifersucht und dem Reiz des Frivolen setzt er so den nackten Körper seiner Frau den Blicken und Berührungen von niemand geringerem als dem Schwiegersohn in spe aus.

Was beim ersten Mal noch Zufall war, wird von da an bewusst provoziert. Doch treten unbewusste Sehnsüchte in der Bewusstlosigkeit Ikukos hervor und Ikuko, die von den Geschehnissen dieser Nacht ahnt, findet einen Weg sich dies zu Nutzen zu machen. 183 eindrucksstarke Seiten lang darf der Leser mitverfolgen wie Ikuko ihre Fassade allmählich ablegt und ihre innere Verderbtheit nach außen dringt.

Subtil arbeitet Tanizaki in das komplexe Geflecht sexueller Obsessionen auch die kulturellen Identitätsprobleme der Figuren, die zunehmend von einer sich im Umbruch befindenden modernen Welt beeinflusst werden, ein. So dient eine amerikanische Sofortbildkamera dem Professor als Hilfsmittel bei der Auslebung seiner Fetische und westliche Mode unterstützt Ikukos Entwicklung zu einer freizügigeren, modernen Frau. Auf diese Weise wird diskret die japanische Tradition dem modernen Westen gegenübergestellt.

Das Lustspiel beginnt schließlich in sämtliche Lebensbereiche einzugreifen und zunehmend destruktive Züge anzunehmen. Tanizakis „Schlüssel“ ist ein Musterbeispiel subtiler Machtspiele. Es bilden sich höchst zweifelhafte Beziehungen und Komplizenschaften zwischen Vater, Mutter, Tochter und dem zukünftigen Schwiegersohn. Und während sich die Eheleute in einigen Dingen besser durchschauen als es der jeweils andere für möglich hält, irren sie sich in anderen grundlegend. So lässt die Illusion blinden Vertrauens in die Anständigkeit seiner Frau den Professor wagemutig genug werden, sich eine Grenzüberschreitung buchstäblich zu wünschen. Völlig blind vor Leidenschaft seinen lebensbedrohlichen, körperlichen Verfall ignorierend, vielleicht auch hoffnungsvoll, auf diese Weise mehr als bloß die körperliche Nähe zu seiner Frau aufbauen zu können, opfert der Professor nicht nur seine Ehe, sondern sich selbst geradezu auf.

Empathie erregen Tanizakis Figuren jedoch nur sehr bedingt. Denn ein wahres Beispiel von Tugend will keine von ihnen sein. Vor allem jedoch ist es die Beschaffenheit des Romans selbst, die den Leser von der ersten Seite an zu Vorsicht und Misstrauen veranlasst. Als bloß ein weiterer Voyeur, der nicht mehr erfährt als das, was die Figuren in ihren Tagebucheinträgen einander preisgeben, weiß der Leser um ihre Täuschungsabsichten.

Trotz, oder gerade aufgrund der Absenz expliziter sexueller Inhalte ist Tanizaki ein meisterhaft eindringlicher Roman über das Zwischenmenschliche und intimste, das zwei Menschen miteinander teilen können, gelungen: das eigene wahre Wesen, das sich erst, wenn von jeglicher moralischen Gebundenheit entfesselt, samt seiner Bedürfnisse und Begehren, wirklich manifestieren kann.

Cover © Kein & Aber Verlag

Wertung: 14/15 dpt

  • Autor: Junichiro Tanizaki
  • Titel: Der Schlüssel 
  • Originaltitel: Kagi (鍵)
  • Übersetzer: Sachiko Yatsushiro & Gerhard Knauss
  • Verlag: Kein & Aber
  • Erschienen: 10/2016
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 192
  • ISBN: 978-3-0369-5748-7
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite
    Erwerbsmöglichkeiten

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