Co Winterstein – Am Rand, mit den Füßen im Nichts (Buch)


Coverbild "Am Rand mit den Füßen im Nichts" (c) Gestaltung Marc Glasze
Coverbild “Am Rand mit den Füßen im Nichts”, alle Rechte bei der Autorin, Gestaltung Marc Glasze

Fein inszenierte Grenzüberschreitungen

„Am Rand, mit den Füßen im Nichts“ heißt der Debütband von Co Winterstein, den die Autorin mit der gleichnamigen Erzählung wie mit einem Paukenschlag eröffnet.

Denn es geht um nichts Geringeres als um einen sexuellen Übergriff, den Winterstein ihre Ich-Erzählerin berichten lässt. Doch nicht der Übergriff markiert die Grenzüberschreitung in dieser Erzählung. Es ist die Art wie die Ich-Erzählerin mit dem Erlebten umgeht. Winterstein verwandelt das Erzählen in ein Zurücknehmen, ein Verzeihen, ein zärtliches Aufbegehren, das sich gegen die Tat nicht gegen den Täter wendet, der – auch das wird berichtet – selbst ein Opfer ist. Als Leserin bin ich irritiert. Darf man so über sexuelle Gewalt denken? Darf man so darüber schreiben? Winterstein wagt es. Und: Es gelingt. Denn sie nimmt dem Geschehen nicht ihre Bedeutung, nicht die Schwere. Im Gegenteil. Die Liebesbeziehung der Ich-Erzählerin zu ihrem Partner ist belastet. Eine Situation, die beide am Abgrund hält, „mit den Füßen im Nichts“.

Auch in den folgenden acht Erzählungen geht es um Grenzen und deren Überschreitung: Um die Grenze zwischen Realität und Kunst zum Beispiel, wie in der Erzählung „Im Sommer“, in der sich ein Museumswärter in die Frau auf einem Renoir-Gemälde verliebt. Um die Grenzen zwischen Leben und Tod (in den Erzählungen „Nach Süden“ und „Das Gewicht von Steinen“) oder einfach um zwischenmenschliche Grenzen („ Profillicht“ und „Hymenoptera“).

Winterstein lotet ihre Figuren aus. Es sind vor allem deren innere Landschaften, die sie zeichnet und so ihrer Leserschaft ganz nahe bringt, auch wenn  – oder gerade wenn – diese Innenansichten dem üblichen Erlebnishorizont nicht zu entsprechen scheinen.

Wintersteins Geschichten zielen darauf, dieses Abgründige nachvollziehbar, erlebbar, zu machen. Damit am Ende das Suchen nach Nähe, nach Liebe, nach dem Sinn, das alle antreibt, auch denen zugestanden werden kann, die man auf den ersten Blick nicht unbedingt begreift.

Immer wieder sucht Winterstein die Nähe zur Kunst, zur Malerei und zur Literatur. Vermißt auch hier die Grenzen. Sie schickt ihre Figuren auf Spurensuche („Die letzten Zeile“) oder lässt sie nach dem Wesen der Kunst, nach der „richtigen“ Herangehensweise forschen („Gleichzeitigkeit aller Farben“).

Obwohl der Erzählband ein Debütwerk ist, ist Winterstein keine Anfängerin. Das belegen nicht nur die am Ende aufgelisteten Auszeichnungen, die sie bei verschiedenen Literaturwettbewerben gewonnen hat. Dafür stehen ihre bis aufs letzte Wort sorgfältig komponierten Texte.

Überhaupt bildet das gesamte Ensemble an Erzählungen eine raffinierte Gesamtkomposition: Insgesamt dreimal lässt sie Linnea und Jonah, die Protagonisten ihrer Auftakterzählung in Erscheinung treten, in „Die letzten Zeilen“ in der Mitte des Erzählbandes, in „ Am Himmel immer noch Sterne“ an dessen Ende. Sie erzeugt dadurch eine inhaltliche Klammer, die die an sich unabhängig voneinander funktionierenden Erzählungen in Korrespondenz setzt.
Die zu Anfang als verstörend abgespeicherte Grenzübertretung relativiert sich durch die wachsende Leserbindung zu den Figuren.
Und die Autorin spielt zusätzlich mit der Fantasie ihrer Leser*innen, indem sie sich selbst mit der Figur ihrer schreibenden Protagonistin Linnea assoziiert und dadurch – erneut – eine Grenze überschreitet.

Co Winterstein hat ihren Debütband in Eigenverantwortung bei BoD publiziert.
Für diese kleine Selfpublisher-Perle spreche ich gerne eine Leseempfehlung aus.

  • Autor: Co Winterstein
  • Titel: Am Rand mit den Füßen im Nichts
  • Verlag: BoD – Books on Demand
  • Erschienen: Januar 2022
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 164
  • ISBN: 978-3755795032


Wertung: 13/15 dpt


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