Thomas Hettche – Der Fall Arbogast (Buch)

“Der Fall Arbogast” ist ein unfassbarer Prozess

Hans Arbogast, gelernter Metzgermeister, ist seit geraumer Zeit Vertreter für amerikanische Billardtische. Er ist viel mit dem Auto unterwegs und nimmt ab und an junge Anhalterinnen mit, so auch am 1. September des Jahres 1953. Es ist die 25-jährige Marie Gurth, eine Flüchtlingsfrau aus Ostberlin, die derzeit in einer Holzbarracke im Flüchtlingsheim von Grangat im Schwarzwald lebt. Man kommt sich näher, sehr nah und am Ende stirbt Marie in den Händen von Arbogast, der zunächst nicht realisiert, was passiert. Hat er sie beim Liebesspiel zu stark gewürgt? In seiner Hilflosigkeit entledigt sich Arbogast der Leiche, in dem er diese nahe einer Bundesstraße in einen Graben wirft, doch nur wenige Tage später stellt er sich der Polizei.

Die Obduktion der Leiche ergibt als Todesursache Herzversagen, zumal die junge Frau nach einem Schwangerschaftsabbruch körperlich geschwächt war. Trotzdem wird Arbogast angeklagt und es kommt zu einem der ungewöhnlichsten sprich skandalösesten Gerichtsprozesse in der deutschen Nachkriegszeit. Professor Heinrich Maul, als Gutachter eine unbestrittene Koryphäe, kommt während seines Vortrags zu dem Urteil, dass Marie mit einem Kälberstrick erwürgt worden sein muss. Zu dieser steilen These, die dem Obduktionsbericht eindrucksvoll widerspricht, kommt er allein durch die Betrachtung von Fotos des Leichnams. Er steigert sich sogar zu der Vermutung, dass Arbogast womöglich der gesuchte Lust- und Autobahnmörder sei, der in den letzten drei Jahren an ähnlicher Stelle junge Frauen ermordete. Ein gefundenes Fressen für den Oberstaatsanwalt und letztlich wird Arbogast zu lebenslanger Haft verurteilt. Sein unerfahrener Verteidiger regte ein Gegengutachten lediglich an, doch da man nach Ansicht des Gerichts einen über alle Zweifel erhabenen Gutachter bereits eingesetzt hatte, blieb es bei der Bewertung durch Maul.

Zehn Jahre später wendet sich Arbogast an Krimiautor Fritz Sarrazin, Vorsitzender der Deutschen Liga für Menschenrechte, der wiederum den Strafverteidiger Ansgar Klein einschaltet. Gemeinsam mit Dr. Katja Lavans von der Universität Ostberlin als neuer Gutachterin geht es in ein Wiederaufnahmeverfahren. Da saß Arbogast bereits 14 Jahre überwiegend in Einzelhaft.

Spannend erzählt, aber mit fiktiven Namen

In der Kategorie „True Crime“ gibt es bekannte „Klassiker“, darunter vor allem „Kaltblütig” von Truman Capote oder „Mord in der Sonntagstraße“ von Peter Englund. Aus deutscher Sicht wäre „Der Fall Arbogast“ von Thomas Hettche zu nennen, der einen Justizskandal beleuchtet, der seinesgleichen sucht.

Doch vorab: Die Geschichte spielt im Roman überwiegend in der Stadt Grangat im Schwarzwald, die es nicht gibt. Genauso wenig wie Hans Arbogast oder Marie Gurth, den Krimiautor Sarrazin oder Katja Lavans. Die meisten Orts- und Personennamen sind frei erfunden, gleichwohl basiert die Handlung auf einem wahren Verbrechen. Man tausche in der Suchmaschine im Internet den Namen Arbogast durch Hetzel oder ersetze beispielsweise Katja Lavans durch Otto Prokop und schon ist man im realen Fall.

Warum ist der Roman „unbedingt“ lesenswert? Es ist zunächst ein erschütternder Fall, denn der vermeintliche Mörder saß 14 Jahre unschuldig im Gefängnis und dies, weil ein (damals hoch angesehener) Gutachter nur anhand von Fotos angeblich Spuren fand, die dem Obduktionsbericht und an einer Stelle seinem eigenen schriftlichen Gutachten widersprachen. Die Betrachtung von Fotos schlägt eine versierte Obduktion; kann man sich nicht ausdenken. Selbstredend wurde ein Kälberstrick o. ä. als Mordwaffe nie gefunden. Möglich wurde das Urteil im Jahr 1955 unter anderem, weil das sexuell ausufernde Geschehen plötzlich im Mittelpunkt stand. Analverkehr, welch‘ Skandal, wurde vermutet, Beweise gab es auch hierfür nicht. Dafür eine selbstherrliche Aussage des Gutachters, von der sich dieser niemals distanzierte. Im realen Fall lieferte Professor Otto Prokop das entscheidende Gegengutachten im Wiederaufnahmeprozess, was insofern prekär war, da er offensichtlich fehlerhafte Arbeitsweisen nachweisen konnte. Ein Professor aus Ostdeutschland, also dem „Unrechtsstaat“ DDR, führt die westdeutsche Justiz vor.

Hettche gibt ausführliche Einblicke in die Arbeit der Justiz, der damaligen Rechtslage (hier vor allem Strafgesetzbuch und Strafprozessordnung) und liefert umfangreiche medizinische Erklärungen. Erzählt wird aus der wechselnden Perspektive mehrerer Personen. Der jahrelange Alltagstrott im Gefängnis, in dem sich Arbogast zunehmend von der realen Welt entfernt. Das mühsame Bestreben zur Wiederaufnahme des Verfahrens, was zunächst wiederholt abgelehnt wird. Nebenbei erhält man Einblicke in die Nachkriegszeit, wie sich die Dinge im Großen und Kleinen ändern, nur eben nicht in der Einzelzelle.

„Der Fall Arbogast“ erschien erstmals 2001 und wird als Kriminalroman beworben. Es ist viel mehr als das, denn die Themenbreite geht weit darüber hinaus. Justizwesen, Gerichtsmedizin, das reaktionäre Denken der Nachkriegszeit, später noch Einblicke in das Leben im sowjetischen Sektor. Distanziert und enorm realistisch als würde ein Film ablaufen. Dabei ist von Beginn an klar, dass es einvernehmlicher Sex war und hier ein Unschuldiger verurteilt wurde. Oder etwa doch nicht? Großes Kopfkino!

  • Autor: Thomas Hettche
  • Titel: Der Fall Arbogast
  • Verlag: KiWi
  • Umfang: 400 Seiten
  • Einband: Taschenbuch
  • Erschienen: April 2017 (Erstveröffentlichung: 2001)
  • ISBN: 978-3-462-05032-5
  • Produktseite

Wertung: 12/15 dpt

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