Kristina Schilke – Alles was lebt (Roman)

In ihrem Roman “Alles was lebt” erzählt Kristina Schilke mit einer Mischung aus magischem Realismus und tiefer Empathie von der Schwere des Seins und der Kunst des Fliegens.

Nach dem Tod ihrer Eltern bezieht Karla deren Haus in der bayrischen Provinz. Schnell wird sichtbar, dass Karla weitaus mehr als nur die Immobilie übernommen hat. In ihrer Trauer fügt sie sich mit dem Einzug nahezu willenlos in ein Leben ein, das sie nicht selbst entworfen hat. Schilke beschreibt Karlas Trauer und Unglücklichsein in ruhigen Bildern, die die Erstarrung ihrer Protagonistin sichtbar machen.

„Das mit der Trauer
hatte sich als schwere körperliche Arbeit herausgestellt. Die Trauer war wie
ein wuchtiger Sandsack, den Karla zu tragen hatte. (…)Überall musste sie ihn
mitschleppen, ob es passte oder nicht.“

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Kurze Erholung von der Schwere ihres Seins findet Karla durch eine Besonderheit in ihrem Haus. Im ersten Stock gibt es ein Zimmer, in dem die Schwerkraft nicht wirkt. Hierin zieht sich Karla regelmäßig zurück, um ihrer Alltagslast wenigstens stundenweise schwebend zu entkommen.

Die Geschichte um Karla und ihr geerbtes Haus bildet Rahmen und roten Faden des Romans. In diesen fügen sich einzelne Episoden, die  – mal mehr, mal weniger direkt – mit Karlas Geschichte zu tun haben. Mit weiteren Protagonisten eröffnet Schilke dabei neue Handlungsstränge. Einige davon bleiben episodenhaft, andere begleiten Karlas Geschichte bis zum Ende. Es handelt sich um Personen, denen Karla in sehr unterschiedlichen Situationen begegnet. Teilweise erzählt Schilke auch in Rückblicken.

Der Zusammenhalt zwischen den einzelnen Episoden ist unterschiedlich stark. Doch insgesamt entpuppt sich das entworfene Geflecht als durchaus engmaschig und fest. Sowohl Karla als auch die Menschen in ihrem Umfeld sind in sich Gefangene, denen der Ausbruch nicht gelingt.

So lernen die Leser:innen zum Beispiel die fast Hundertjährige Nachbarin kennen, der die Welt immer fremder wird. Den Kaplan, der Karla seelsorgerisch betreut und selbst Hilfe für seine Seele sucht. Die Freundin aus Jugendzeiten, die sich in den Alkohol flieht.

Schilke fügt dem magischen Realismus ihrer Ausgangsidee vor allem Szenen hinzu, die Alltägliches zeigen. Situationen, in die sich die Protagonisten widerspruchslos fügen, selbst wenn klar wird, wie wenig glücklich sie damit sind.

Ein Paradebeispiel dafür ist David, den Karla auf einem Volksfest kennenlernt und in den sie sich verliebt. Auch er ist eine verletzte Seele. Nach einer langen und sehr unglücklichen Ehe hat er sich endlich von seiner Frau getrennt, teilt mit ihr jedoch noch immer das Haus. So ist auch er nicht wirklich frei. Die Altlasten, die Karla und er mit in die Beziehung bringen, beeinflussen das gemeinsame Glück.

Schilke entwickelt eine große Zärtlichkeit zu ihren Figuren, die allesamt so unterschiedlich sind. Sie inszeniert die Banalitäten des Alltags mit viel Gespür für die Dramatik, die sich im Innern ihrer Protagonisten abspielt und zum Ausbruch kommt.

Nicht zu allen Episoden fand ich gleichermaßen einen Zugang. Bei einigen konnte ich die Relevanz nicht aufspüren, die mir der Plot versprach. Großzügig versöhnt wurde ich jedoch durch andere Szenen, die für große anrührende Momente im Roman sorgen, zum Beispiel die Erzählung um Lisa, die alkoholkranke Freundin Karlas oder die Passagen, die die Liebesgeschichte von Karla und David zeigen.

Mit ihrem Roman spannt Kristina Schilke einen weiten Themenbogen um das Leben und Aufwachsen in der Provinz mit seiner gefühlten Enge und der Sehnsucht nach Freiheit und Selbstfindung. Feinfühlig verbindet sie Tragik und Komik und legt humorvoll die Absurdität offen, die im Alltäglichen liegt. Vor allem aber begegnet sie ihren Figuren mit großem Respekt und Empathie, weshalb man ihr als Leser:in gerne folgt.

  • Autorin: Kristina Schilke
  • Titel: Alles was lebt
  • Verlag: Gans Verlag
  • Erschienen: 13. Februar 2025
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Seiten: 284 Seiten
  • ISBN: 978-3946392545

Wertung: 12/15 dpt

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