Ben Pastor – Der Tod der Äbtissin (Buch)

Ermittlungen mit Vorgaben

Seit drei Wochen dient Martin Bora, Hauptmann der Wehrmacht, im besetzten Krakau; seit zwei Wochen ist er Kommandant Oberst Hofer beim Nachrichtendienst unterstellt. Hofer besucht täglich das Kloster zu Unserer Lieben Frau von den Sieben Schmerzen, wo die in ganz Polen als Heilige verehrte Äbtissin Mutter Kazimierza tätig ist und Ereignisse in Visionen voraussieht. Sie hat Stigmata an Händen und Füßen, ein weiteres Mysterium. Am 23. Oktober 1939 eilt Hofer entsetzt aus dem Kloster und bittet Bora um Hilfe, denn die Äbtissin liegt tot neben dem Brunnen im Klostergarten. Noch schlimmer: Sie wurde erschossen und wenn dies publik wird, droht die ohnehin unübersichtliche Lage im Generalgouvernement gänzlich zu eskalieren.

„Weit entfernt von der Spannung, die darin lag, Städte zu erobern, Haus für Haus, Tür für Tür. Jetzt kam es ihm so vor, als wären die glorreichen Tage bereits vorüber und als ginge es nun, nach der Hochstimmung der ersten drei Wochen, mit dem Krieg – der ohnehin höchstens noch einen Monat dauern würde – nur noch bergab.“

Bora soll ermitteln, aber unter Wahrung der deutschen Interessen. Pater John Malecki aus Chicago weilt seit sechs Monaten in Krakau im Auftrag des Vatikans und soll herausfinden, was es mit den Vorhersagen der Äbtissin auf sich hat. Ist sie womöglich eine Heilige? Nach deren Ermordung soll sich Malecki an den Ermittlungen beteiligen, was nicht einfach erscheint, denn Wehrmacht, SD und SS haben ihre eigenen Interessen, da braucht es keine Einmischung von außen. Eigene Interessen verfolgen zudem das amerikanische Konsulat, der Erzbischof von Krakau und Seine Heiligkeit in Rom.

„Wenn Sie heute mit den Bauern reden, denken Sie daran, dass die Ihnen das sagen werden, was Sie hören wollen.“

„Das ist unwahrscheinlich, Herr Oberst, denn ich weiß selbst nicht, was ich hören will.“

„Hoffentlich die Wahrheit – was auch immer Wahrheit für Sie heißt.“

Bora erkennt schnell, dass er auf Malecki angewiesen ist, will er vor allem Zugang zu den Nonnen des Klosters sowie Einheimischen erhalten, die keineswegs bereit sind, mit einem deutschen Wehrmachtsoffizier zu sprechen. Hofer wird derweil durch Oberstleutnant Emil Schenck ersetzt, der sich gemeinsam mit Bora auch um Kontakte zur Roten Armee kümmern soll. Major Retz, der sich mit Bora eine Wohnung teilt, fischt dies alles nicht an. Er genießt das Leben und die Zuneigung polnischer Schauspielerinnen.

Ein Martin-Bora-Roman

Aus der Martin-Bora-Serie erschienen 2005/2006 die Romane „Der Tod der Äbtissin“ und „Stürzende Feuer“ bei Piper, die aktuell beim Unionsverlag neu aufgelegt wurden. Womöglich werden weitere Bände folgen, denn im Original umfasst die Reihe inzwischen dreizehn Bände. Martin Bora ist ein höchst ungewöhnlicher Protagonist, denn er ist gleichzeitig überzeugter Wehrmachtsoffizier und ein Ermittler, dem durchaus an der Wahrheitsfindung liegt. Gerade diese ist allerdings seinen Vorgesetzten sowie der SS ein Dorn im Auge.

„Wie kann eine Nonne im inneren Garten eines Ortes niedergeschossen werden, der so abgeschieden ist wie kein zweiter in ganz Krakau?“

Bora und Pater Malecki arbeiten so gut es geht unter den gegebenen Umständen zusammen, ohne sich dabei gegenseitig über den Weg zu trauen. Welche Absicht verfolgt der Pater aus Amerika? Jene seines Konsulats, jene des Krakauer Erzbischofs oder des Vatikans, verfolgt er die Interessen der Nonnen oder gar seine eigenen? Ehrlichkeit wäre hilfreich, ist in jener Zeit aber auch lebensgefährlich. Dies gilt ebenso für das Leben der Polen, die unter den Besatzern leiden, denn vor allem die SS schreckt nicht vor Gräueltaten zurück. Eines Anlasses bedarf es dafür nicht, wie Bora wiederholt zu seinem Entsetzen feststellen wird. Derweil gerät er selbst zwischen alle Fronten.

Die Erzählung wechselt vor allem zwischen Bora, Malecki und den polnischen Schauspielerinnen Ewa und Helenka, die sich beide zu Major Retz hingezogen fühlen. Eine tödliche Liaison, in der Bora ebenfalls ermitteln will, schließlich war Retz sein Mitbewohner. Von derlei Liebesbeziehungen hält Oberstleutnant Schenck wenig, schließlich geht es nicht um sexuelle Begierde, sondern um nichts weniger als die Fortpflanzung der deutschen Rasse wie er Bora mehrmals deutlich macht, dessen Ehefrau in Leipzig lebt.

Es gilt, wie angedeutet, zwei Morde aufzuklären. Im Hintergrund laufen derweil weitere (Kriegs-)Verbrechen und geben Einblicke in jene düstere Zeit. „Der Tod der Äbtissin“ ist ein vielschichtiger Roman, dessen Lektüre höchste Aufmerksamkeit erfordert, denn nicht nur die Dialoge zwischen Bora und Malecki verlaufen oft im Ungefähren. Andeutungen gibt es reichlich, Konkretes auszusprechen will wohlüberlegt sein. Es ist ein Kriminalroman, ein Whodunnit, aber auch ein Antikriegsroman und mehr. Die zahlreichen Bezüge zum Klosterleben, das Vorgehen von SS und Wehrmacht und nicht zuletzt die Gratwanderung Boras zwischen Befehlsbefolgung und menschlichem Anstand (hier kaum aufzulösen) bieten reichlich Stoff für eine nachhaltige Beschäftigung mit der Lektüre. Keine leichte, aber lohnenswerte Krimikost.

  • Autorin: Ben Pastor
  • Titel: Der Tod der Äbtissin
  • Originaltitel: Lumen. Aus dem Englischen von Sylvia Höfer
  • Verlag: Unionsverlag
  • Umfang: 336 Seiten
  • Einband: Taschenbuch
  • Erschienen: Februar 2025
  • ISBN: 978-3-293-20986-2
  • Produktseite

Wertung: 12/15 dpt

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