Claire Winter – Die Erbin (Buch)

Dunkle Familiengeheimnisse aus noch düsterer Zeit

Februar 1957. Bei einer hochrangig besuchten Veranstaltung stellt Cosima Liefenstein, eine Erbin des gleichnamigen Industriekonzerns, die Gründung der nach ihrem Großvater benannten Wilhelm-Liefenstein-Stiftung für bedürftige Frauen und Mütter vor. Auf der Rückfahrt verursacht sie einen Unfall und lernt auf diese Weise den Kölner Journalisten Leo Marktgraf kennen. Bei einem kurzen Gespräch in einer Gaststätte, kann sie einen Blick auf eine Tageszeitung werfen, der zu entnehmen ist, dass der Kölner Anwalt Walter Weber in den Rhein gestürzt und ertrunken sei. Erst zwei Wochen zuvor schüttete Weber bei einem Ball entrüstet Cosimas Onkel Theodor ein Glas Sekt ins Gesicht und drohte diesem.

Leo war ein enger Freund von Weber und glaubt nicht an einen Unfall. Er will herausfinden, wer für dessen Tod verantwortlich ist. Die Kanzlei des Anwalts wurde durchsucht, sämtliche Fallakten der letzten sechs Monate sind verschwunden, das Telefon seines Partners ist verwanzt. Leo fühlt sich beobachtet und versucht Kontakt mit Cosima aufzunehmen, die stets in der Öffentlichkeit von zwei Leibwächtern begleitet wird. Durch den Tod Webers interessiert sich auch Cosima dafür, was es mit dessen Anschuldigungen auf sich hat, doch über die Vergangenheit wurde in der Familie nie gesprochen und schon gar nicht über die letzten Kriegsjahre, in denen dringend Arbeitskräfte gesucht wurden. Leo und Cosima suchen nach Antworten, aber nach wie vor mächtige Kräfte wollen die Zeit unbedingt ruhen lassen. Nicht nur ihr geliebter Onkel Theodor.

Eine Industriefamilie im Dritten Reich

Claire Winter hat mit „Die Erbin“ einen packenden Roman über eine fiktive Industriellenfamilie geschrieben, die es so ähnlich öfters gab. Man geriet in das Dritte Reich hinein, erkannte die wirtschaftlichen Chancen für das eigene Unternehmen und arrangierte sich mit dem System. So gehen Parteimitglieder, später Vertreter von SS und Gestapo, bei den Liefensteins ein und aus. Die Familie kommt dadurch billig an Grundstücke und mehrere Firmen, die in die Unternehmensstrategie passen. Juden werden enteignet, da heißt es zugreifen. Was dies darüber hinaus hieß, erfährt die 1935 geborene Cosima erst zwölf Jahre nach Kriegsende. Zwangsarbeit mit KZ-Häftlingen beispielsweise, von der nach Kriegsende niemand mehr etwas wissen wollte. Die Kooperation mit den Nationalsozialisten sei erzwungen gewesen, so die weitverbreitete Mär, die heute längst widerlegt ist.

Es geht jedoch nicht nur um die Firmengeschichte und die Verstrickung der Familie in das Naziregime, sondern zudem um das Innere des Familienlebens, welches nicht wenige Abgründe aufzuweisen hat. Wie in diesen Kreisen nicht unüblich, heiratete man nicht immer aus Liebe, sondern ähnlich wie im Adel, um das Ansehen der eigenen Firma und deren Einfluss zu erweitern. So auch bei Theodor, Albrecht und Edmund, den drei Söhnen des Familienpatriarchen Wilhelm. Edmund ist Cosimas Vater und war mit Rita verheiratet, die zwar wunderschön aussah, aber schnell der Naziideologie verfiel, welche Edmund verabscheute, zumal sein bester Freund ein Jude war. Man entfremdete sich schnell und sowohl Rita wie Edmund hätten mit ihrem Verhalten einen Skandal ausgelöst, wäre dieses denn jemals an die Öffentlichkeit gedrungen.

In den meisten Familien, die Cosima kannte, wurde nicht über früher gesprochen. Alle wollten diese Zeit nur vergessen.

Der Roman spielt in zwei Zeitebenen. Der Gegenwart des Jahres 1957, in der Leo und Cosima recherchieren, sowie der Zeit ab November 1929 bis „heute“. In zahlreichen Rückblenden wird offenbart, wie es zu der aktuellen Situation kommen konnte und warum beim Tod von Walter Weber nachgeholfen wurde. Fans von Mechthild Borrmann ahnen was sie erwartet und dürfen zugreifen. Mehr soll zum Inhalt nicht erzählt werden, nur noch so viel, dass im November 1929 die siebzehnjährige Elisa als Dienstmädchen bei den Liefensteins in deren Villa in Berlin anfängt. Der Roman wird geprägt von zwei starken Frauenfiguren, von denen Elisa immerhin die Liebe ihres Lebens finden wird. Diese endet in mehreren Hinsichten tragisch, wobei es nicht schwer zu erraten ist, wer der Glückliche sein wird.

Dies ist zugleich der „Schwachpunkt“ des Romans: Viele Entwicklungen sind vorhersehbar und vor allem am Ende ist es des Guten ein wenig zu viel konstruiert. Ungeachtet dessen bietet „Die Erbin“ eine kurzweilige, berührende Geschichte, die man als Krimi, zeithistorischen Roman, Familienepos oder Geschichtsstunde lesen kann. Von allem ist etwas dabei und ergibt einen ausgewogenen Mix. Insbesondere zwei Liebesbeziehungen in den 1940er Jahren dienen nicht nur zur seitenfüllenden Aufblähung des Buchumfangs, sondern sind teils Ausgang für die späteren Untergangsszenarien.

  • Autorin: Claire Winter
  • Titel: Die Erbin
  • Verlag: Heyne
  • Umfang: 592 Seiten
  • Einband: Hardcover
  • Erschienen: April 2025
  • ISBN: 978-3-453-29258-1
  • Produktseite

Wertung: 12/15 dpt

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