Sally Smith – Der Tote in der Crown Row (Buch)

Ermittlungen im Temple-Bezirk

Wie jeden Morgen schreitet der Kronanwalt Sir Gabriel Ward zu seiner Kanzlei und stolpert an deren Eingang über einen Toten. Der Zylinder verdeckt den Kopf, doch ein Messer in der Brust zeigt die Todesursache an, wobei noch mehr als das Mordopfer selbst die Tatsache irritiert, dass der Tote barfuß ist. Sir Gabriel arbeitet im Temple-Bezirk, einer ähnlich dem Vatikan abgeschotteten Enklave, in der eigenes Recht gilt. Hier befinden sich der Inner und der Middle Temple, zwei von vier Anwaltskammern für Barrister. Das Gebiet zwischen Fleet Street und Themseufer kann nur von bestimmten Personen betreten werden, Pförtner bewachen zudem die Eingangstore.

Bei dem Opfer handelt es sich um Lordoberrichter Norman Dunning, also den obersten Richter Englands. Kurz vor seiner Ermordung nahm er an einem Diner von Sir William Waring, seines Zeichens Schatzmeister und Präsident des Inner Temple, teil, ebenso wie die Lordrichter Brown und Wilson, die schon länger als Dunnings mögliche Nachfolger gehandelt werden.

Wenn sich ihre Wege kreuzten, lüpfte Gabriel deshalb stets seinen Zylinder, sagte „Guten Morgen“ und fügte mit einer leichten Verzögerung „Lordoberrichter Dunning“ hinzu. Die kurze Sprechpause sollte auf subtile Weise zugleich Respekt gegenüber dem Amt und Verachtung für den Amtierenden zum Ausdruck bringen.

Da die City of London Police im Temple keine Befugnisse hat, wird Sir Gabriel von Sir William beauftragt, Befragungen innerhalb des Temple durchzuführen. Die Ergebnisse sollen der Polizei zugespielt werden, die dann die Ermittlungen von draußen führt. Eine Woche hat Sir Gabriel Zeit, für die ihm der Constable Maurice Wright zur Seite gestellt wird.

Beide Areale sind sogenannte „Liberties“, also unabhängig von der städtischen Jurisdiktion von London. Inner und Middle Temple unterliegen weder ziviler noch kirchlicher Jurisdiktion und werden von eigenen Parlamenten regiert. Das ist unsere ganz eigene kleine Welt. Ausgesprochen romantisch, nicht wahr?

Sir Gabriel ist einer der profundesten Barrister, aber eben kein Privatdetektiv. Immerhin versteht er es wie kaum ein anderer, durch geschicktes befragen, Ergebnisse zu erzielen. Dabei nimmt er die Ermittlungen zunächst nur widerwillig auf, denn sein aktueller Prozess im Fall Moore gegen Cadamy erfordert seinen ganzen Einsatz. Moore ist Buchhändler und Verleger und hat ein Kinderbuch veröffentlicht, welches enorm erfolgreich ist. Verträge über internationale Veröffentlichungen bis hin zu Werbeprodukten hat Moore unerlaubt im Namen der ihm unbekannten Autorin unterschrieben.

Das Manuskript wurde ihm vor vier Jahren anonym vor die Geschäftstür gelegt, alle Versuche Kontakt mit der Autorin aufzunehmen scheiterten. Nun, vier Jahre später, meldet sich Miss Susan Hatchings und behauptet, die heimliche Autorin zu sein. Urheberrechte, Schadensersatzansprüche bis hin zu Betrugsvorwürfen gegen Moore wollen geprüft werden. Da kommt die Detektivarbeit zur Unzeit.

Sir Gabriel und Constable Wright wünscht man weitere Fälle

Auf der Internetseite des herausgebenden Goldmann Verlag ist der Titel mit dem Zusatz „Band 1“ vermerkt, was folglich auf weitere Romane mit dem „Ermittler“-Duo Sir Gabriel / Constable Wright schließen lässt. Es wäre eine gute Nachricht, denn allein die Besonderheiten des Temple sorgen für ein interessantes Leseerlebnis. Die Handlung spielt 1901, so dass Einblicke in den damaligen Stand polizeilicher Ermittlungsarbeit informativ sind. Die Daktyloskopie, unter der man gemeinhin die Abnahme von Fingerabdrücken versteht, steckt noch in den Anfängen, so dass Wrights Vorgesetzter Detective Inspector Hughes kurzerhand die Tatwaffe aus dem Körper des Opfers zieht. Mit bloßer Hand versteht sich. Hughes ist überhaupt sehr schnell mit seinen Methoden und Schlussfolgerungen, so verwundert es nicht, dass er sich umgehend sicher ist, wer der Mörder sein muss. Albert Broadbent, ein Vagabund, der einst zwei Jahre im Gefängnis saß, nachdem ihm Richter Dunning wegen angeblichen Diebstahls verurteilte. Die Beweislage war damals so dünn wie heute.

Das war das Unangenehme an der Zusammenarbeit mit Ward: Der Mann hatte die nervtötende Angewohnheit, obskure juristische Kenntnisse aufzutischen, verbunden mit der noch ärgerlicheren Haltung, dass alle anderen auch darüber im Bilde sein müssten. Was regelmäßig dazu führte, dass man dastand wie ein Volltrottel.

Sir Gabriel, ein Pedant besonderer Art, bestreitet als Protagonist weite Strecken der Handlung, die im Wesentlichen aus zwei Teilen besteht; der Mordermittlung und besagtem Urheberstreit. Man erhält somit nicht nur Einblicke in die damalige Polizeiarbeit, sondern vor allem in jene der Barrister und deren Auftreten vor Gericht. Beides ist durchaus unterhaltsam, wobei juristische Grundkenntnisse nicht erforderlich sind. Da Broadbent als Täter etwas zu offensichtlich ist, muss die Lösung naturgemäß woanders zu finden sein und so drängt sich der Verdacht auf, dass der Mörder im Kreis der hochangesehenen „Männer des Rechts“ zu finden sein könnte.

Nicht Ihre oder meine Vermutungen sind ausschlaggebend, sondern was die Geschworenen bereit sind, als Tatsache zu akzeptieren.

Damit wären wir abschließend noch mal kurz beim Temple, denn der Handlungsort ist der heimliche Star des Plots. Eine in sich abgeschlossene Welt, die Sir Gabriel nur äußerst selten verlässt und hierbei ein wenig an den New Yorker Privatdetektiv Nero Wolfe von Rex Stout erinnert, der wiederum höchst ungern sein Haus verließ. Ein dem Roman vorgestellter Planauszug zeigt den Temple und die wesentlichen Handlungsorte zum besseren Verständnis. Insgesamt ist „Der Tote in der Crown Row“ ein konventioneller Krimi ruhiger Machart, der durch einen liebenswürdigen, aber auch gewöhnungsbedürftigen Helden, Einblicke in Justiz- und Polizeiarbeit, sowie einen außerordentlichen Handlungsort besticht.

  • Autorin: Sally Smith
  • Titel: Der Tote in der Crown Row
  • Originaltitel: A Case of Mice and Murder. Aus dem Englischen von Sibylle Schmidt
  • Verlag: Goldmann
  • Umfang: 400 Seiten
  • Einband: Hardcover
  • Erschienen: April 2025
  • ISBN: 978-3-442-31792-9
  • Produktseite

Wertung: 11/15 dpt

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