Gregor Müller – Leipziger Zeitenwende (Buch)


Leipziger Zeitenwende
© Gmeiner

Gregor Müller – Leipziger Zeitenwende (Buch)

Droht die Apokalypse? Joseph Kreisers zweiter Fall.

Leipzig, Ende Dezember 1899: Polizeirat Laakmann setzt seinen Kriminalcommissar Joseph Kreiser unter Druck. Noch immer gibt es keine Ergebnisse bei der Jagd nach der Lottobande, die mit ungedeckten Lottoscheinen für eine Neujahrsziehung wirbt. Nur noch wenige Tage sind es bis zum Jahreswechsel, dann fliegt der Betrug auf und die Bande ist vermutlich weit weg. Aufgrund eines kaiserlichen Dekrets steht zudem nicht nur ein Jahreswechsel, sondern gleich ein Jahrhundertwechsel bevor. Ein Jahr zu früh, was soll’s.

Da es kein Jahr Null gab, hätte die Jahrhundertfeier erst mit dem Wechsel zum nächsten Jahr begangen werden müssen, wie es auch mit Ausnahme Deutschlands alle anderen Länder taten. Doch der Kaiser hatte es nun einmal per Dekret so erlassen und die Deutschen hörten auf ihren Kaiser.

Nach dem Einbruch in eine Druckerei gerät Kreiser zufällig an einen weiteren Tatort. In einem Hinterhof wurde die Leiche der 17-jährigen Henriette Weidmann gefunden, die offenbar den Freitod wählte. Kreiser erfährt jedoch, dass unmittelbar vor dem Sturz aus dem Fenster, die junge Prostituierte Besuch von einem humpelnden Mann hatte. Somit führt eine erste Spur zu Diakon Richard Hauk, der sich um Henriettes Seelenheil kümmerte und aufgrund eines Kutschenunfalls der „humpelnde Heilige“ genannt wird. Doch Laakmann will davon nichts wissen, Kreiser soll sich fortan um die Pressearbeit kümmern. Fast umgehend wird Kreiser jedoch zu einem weiteren Tatort gerufen. Major a. D. August Rudolph Hahn soll ebenfalls Selbstmord begangen haben, was dessen Ehefrau für ausgeschlossen hält.

Frau Hahn, haben Sie in letzter Zeit irgendwas Besonderes an Ihrem Mann festgestellt? Hatte er Stimmungen, die Sie vorher noch nicht bei ihm bemerkt hatten?“
„Stimmungen? Mein Mann hatte keine Stimmungen. Er war Soldat und Träger des Eisernen Kreuzes zweiter Klasse!

Da Frau Hahn mit Cosima Möbius eng befreundet ist, bittet diese ihren Ehemann Gustav sich der Sache anzunehmen. So treffen Staatsanwalt Möbius und Commissar Kreiser erneut aufeinander und ahnen freilich nicht, dass die Lösung des Falles mit der Offenbarung des Johannes zusammenhängt; der Apokalypse.

Vermeintliche Selbstmorde, religiöser Wahn und die Frauenbewegung

„Völkerschau“, der erste Band mit Josef Kreiser, spielt 1898 und setzt das Setting, welches hier konsequent fortgesetzt wird. Kreiser, noch immer Junggeselle, was sich aus einem bestimmten Grund nicht ändern wird, lebt bei Hannah Faber, einer geistig aufgeweckten älteren Dame, die allerdings erblindet ist. So genießt sie nicht nur die Versorgung durch ihr Hausmädchen, welches wohl demnächst heiraten wird, sondern auch die allabendlichen Kamingespräche mit ihrem Untermieter, der ihr über seine beruflichen Erlebnisse berichtet. Bereits in „Völkerschau“ konnte Hannah hierdurch einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Aufklärung des Falles leisten. Ungewöhnlich ist hierbei weniger, dass der Commissar gänzlich offen aus seinem Berufsleben plaudert, sondern dass die abendlichen Begegnungen in der dritten Person beschrieben werden, bevor dann die tagesaktuellen Geschehnisse beziehungsweise Rückblicke von Kreiser in der ersten Person erzählt werden.

Neben dem Krimiplot, der hier gleich mehrere Verbrechen umfasst (Fälscherbande, Einbruch, Selbstmordserie, Mord), werden erneut zahlreiche andere Themen in unterschiedlicher Intensität angerissen. Hannah engagiert sich trotz ihrer Erblindung in der Frauenbewegung, die sich im Kaiserreich in drei Lager aufteilt. Es gibt radikale, gemäßigte und proletarische Positionen, welche dazu führen, dass man untereinander zerstritten ist. So debattiert man über die Notwendigkeit politischer Mitbestimmung, kämpft aber ebenso für den Zugang an Universitäten. Zwar hat bereits 1880 die erste Frau ein Medizinstudium abgeschlossen, gleichwohl wurde ihr die Anerkennung des Examens verwehrt.  

Zwei angebliche Selbstmorde, ein hingerichteter Jude und als alles verbindendes Element apokalyptische Schriften? Mensch Kreiser, so lässt man doch kein Jahrhundert enden!

Durch den Tod des Majors wird die Schlacht von Gravelotte (in Preußen und Sachsen „Schlacht bei Sankt Privat“), die am 18. August 1870 stattfand und über 30.000 Tote forderte, besprochen. Durch den Tod der jungen Henriette geht es des Weiteren um die Situation der Prostituierten und den heuchlerischen Umgang der Gesellschaft mit dem Leid der Frauen beziehungsweise jener zweifelhaften Rolle, die dabei den Männern zukommt. Da bei allen Opfern Auszüge aus einem Pamphlet mit dem Titel „Weltenende“ gefunden werden, kommt noch die Motivation des Mörders ins Spiel. Dieser unterliegt einer religiösen Wahnvorstellung und bezieht sein Wirken auf die Offenbarung des Johannes und der hier dem Schicksal der Apokalyptischen Reiter.

Zu guter Letzt wird die Kaiserzeit und die Geschichte der Stadt Leipzig angerissen, die erneut eine bildgewaltige Hintergrundkulisse bietet. Und, ja, auch im Privatkleben des Protagonisten wird die Situation klarer – und damit gefährlicher.

  • Autor: Gregor Müller
  • Titel: Leipziger Zeitenwende
  • Verlag: Gmeiner
  • Umfang: 288 Seiten
  • Einband: Taschenbuch
  • Erschienen: Februar 2022
  • ISBN: 978-3-8392-0153-4
  • Produktseite  


Wertung: 11/15 dpt


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