Juan Gómez Bárcena – Auch die Toten
Monumental – Ein literarisches Mahnmal
Es beginnt als klassische Reise-Erzählung. Im frisch kolonialisierten Mexiko wird der Kastillier Juan, ehemaliger Soldat, inzwischen Betreiber einer schäbigen Kneipe im abgelegenen Irgendwo, von zwei Vertretern der spanischen Krone beauftragt, auf Kopfgeldjagd zu gehen. Der Gesuchte ist ein Mann, der ironischerweise ebenfalls Juan heißt, seiner indigenen Herkunft wegen aber als „Indio“ Juan bezeichnet wird.
Worin genau die Verbrechen des „Indio“ Juan bestehen bleibt vage. Den Beauftragen interessiert es zunächst auch nicht. Er nimmt die Verfolgung auf. Seine Spurensuche führt ihn durch ein von den Eroberern mit Hilfe der katholischen Kirche geknechtetes Land. Er trifft auf Menschen, die den „Indio“ Juan kannten und durch deren Berichte nach und nach ein Bild des Gesuchten entsteht.
So erfahren wir, dass der „Indio“ Juan als Kind aus seinem indigenen Umfeld gerissen und in ein Kloster gesteckt wurde. Dort entwickelte sich der hochintelligente Junge zum Musterschüler. Von der katholischen Kirche missioniert, denunzierte er als Kind sogar den eigenen Vater, der heimlich seinen Göttern treu blieb.
Angetrieben durch seinen scharfen Verstand beginnt „Indio“ Juan sich jedoch zu emanzipieren. Er hinterfragt die durch die katholische Kirche vermittelte Lehre ebenso wie den Machtapparat dahinter. Er übersetzt die lateinische Bibel ins Spanische, was ihn in den Augen der Konquistadoren zum Aufwiegler und Ketzer macht. Für seine Mitmenschen wird er dadurch jedoch zum Hoffnungsträger, zum „Padre“ Juan.
Mit jeder Episode schreitet die Verwandlung Juans voran. Vom ursprünglich gewaltsam seinen kulturellen Wurzeln Entrissenen wird er zum bekehrten Gläubigen, verwandelt sich in einen aufbegehrenden Zweifler und Reformer, tritt als Revolutionär in Erscheinung, als Großgrundbesitzer, als Kapitalist und später als Mafiakönig. Juans Reise durch das Land gerät immer mehr zu einer Reise durch die Zeit, durch fast fünfhundert Jahre mexikanischer Geschichte. Die Verwandlung des Landes spiegelt sich exemplarisch in der Figur des Gejagten Juan. Aber auch der Verfolger Juan verändert sich, fühlt sich dem „Indio“ Juan immer verbundener. Die Grenzen beider Leben verschmelzen. Die Spurensuche wird für den Suchenden zur Identitätssuche bzw. -findung.
„Dann fragt Juan das, worauf es keine Antwort gibt. Er will wissen, wer der Compadre ist, woher er kommt, wie er mit Vornamen heißt. Ob nicht zufällig Juan. Aber niemand kennt seine Herkunft oder seinen Vornamen. Wie gesagt, der Compadre ist der Compadre. Er ist wie wir: Seine Mutter ist die Erde, und sein Vater ist der Schweiß. (…) Was soll’s. Es gibt nur eine Erde und es gibt auch nur eine Menschheit. Der Compadre ist der Vater von uns allen. Der Compadre ist der Diener von uns allen. Wir, sagen sie, sind der Compadre.“
Seite 321
Juan Gómez Bárcena löst auf 450 Seiten die konventionellen Grenzen des Erzählens auf. Sein Roman verwandelt sich in eine Parabel, die die großen Zyklen der mexikanischen Geschichte reflektiert.
Obwohl das Geschilderte zunehmend Symbolcharakter erhält, weicht Bárcena nicht von seinen schonungslos-direkten Bildern ab, mit denen er Juans Reise durch die Zeit beschreibt. Die von ihm erzeugte Wirklichkeit ist ebenso lebendig wie schmerzhaft. Die sich in allen Episoden spiegelnde Vergeblichkeit menschlichen Aufbegehrens beherrscht sein monumentales Geschichtsbild.
Immer wieder wählt Bárcena Formulierungen, die er wortgenau aufnimmt und refrainhaft wiederholt. Mit diesem ins Zwanghafte reichendem Stilmittel umkreist er den Kern seiner Philosophie:
Es gibt kein Entrinnen, keine Flucht, nur die Flucht selbst. Egal wohin Juan kommt, überall herrschen die gleichen Strukturen. Sie alle sind ein Echo, eine gnadenlose Wiederholung der Ursprungsgeschichte. Die Kolonisierung, die Ausbeutung, die Unterdrückung der Schwachen durch die Starken, es endet nie, so weit und so lange Juan auch reist.
„Den Weg der Revolution zu gehen, denkt Juan, ist so ähnlich, wie in einem Fluss gegen den Strom zu schwimmen. Erst fließt das Wasser ruhig, einmütig, gleichmäßig demselben Ziel entgegen; dann kommen die ersten Biegungen, die ersten Verwirbelungen, Verdrehungen; das Wasser wird immer energischer, lärmender, stürzt sich nicht mehr dort hinab, wo es will, sondern dort, wo es kann. Der Fluss gabelt sich in zwei oder drei oder zwanzig Flüsse, gabelt sich wütend schäumend, und dann muss man sich entscheiden, welcher Lauf der richtige ist, welcher Nebenfluss, welcher Fluss der wahre. Aber woher soll man wissen, dass so etwas wie der wahre Fluss überhaupt existiert.“
Seite 326
Nun könnte ein so drastischer Pessimismus leicht zermürbend werden und die Leser:innen in ihrer Redundanz schnell langweilen. Doch Bárcena gelingt es durch die Authentizität seiner Inszenierung sowohl zu fesseln als auch der zeitlosen Aktualität seines Themas gerecht zu werden.
„Auch die Toten“ ist ein literarisches Mahnmal. Eine historische Abrechnung mit dem Verbrechen des Kolonialismus und seiner Fortsetzung durch den modernen Kapitalismus. Aufrüttelnd, erschütternd und zutiefst desillusionierend.
„Auch die Toten“, im Original „Ni si quiera los muertos“ (was übersetzt in etwa „Noch nicht einmal die Toten“ bedeutet), erschien 2020. Mit diesem Titel war Juan Gómez Bárcena Finalist für den Preis des Madrider Buchhändler*innenvereins für das beste Buch des Jahres.
Herausragend ins Deutsche übertragen wurde der Roman durch Matthias Strobel. Das Besondere: Er und Bárcena arbeiteten drei Wochen gemeinsam am Text. Eine Zusammenarbeit, die ermöglicht wurde durch die Recidencia traduccion, ein gemeinsam durch das Goethe-Institut in Madrid und die Acción Cultural Española (AC/E) getragenes Projekt.
Große Leseempfehlung!
- Autor: Juan Gómez Bárcena
- Titel: Auch die Toten
- Originaltitel: Ni si quiera los muertos
- Übersetzer: Matthias Strobel
- Verlag: Secession Verlag
- Erschienen: September 2022
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 450 Seiten
- ISBN: 978-3966390583
Wertung: 14/15 dpt
- Autor: Juan Gómez Bárcena
- Titel: Auch die Toten
- Originaltitel: Ni si quiera los muertos
- Übersetzer: Matthias Strobel
- Verlag: Secession Verlag
- Erschienen: September 2022
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 450 Seiten
- ISBN: 978-3966390583
Wertung: 14/15 dpt