Die Abgründe der Gesellschaft Russlands
In dem Storyband „Geschichten aus der Heimat“ präsentiert Dmitry Glukhovsky 20 Kurzgeschichten, die er zwischen 2010 und 2021 geschrieben hat. Diese Geschichten stellen eine Bestandsaufnahme der Situation und Gesellschaft Russlands unter Putins Herrschaft aus der Sicht des russischen Autors dar.
Mit seiner dystopischen „Metro“ Trilogie wurde Glukhovsky einem weltweiten Lesepublikum bekannt. Er ist Journalist, studierte in Jerusalem und arbeitete für internationale Medien. Der Autor ist stets ein scharfer Kritiker Putins gewesen und verurteilt den Krieg in der Ukraine. Da er in seiner Heimat auf der Fahndungsliste steht, lebt er inzwischen im Ausland. Wer könnte uns, die wir seit Beginn dieses Angriffskriegs fassungslos die Geschehnisse in der Ukraine und in Russland verfolgen, besser spiegeln, wie die russische Gesellschaft tickt?
In einem ausführlichen Vorwort fasst Glukhovsky zusammen, was seiner Ansicht nach mit seiner Heimat nicht stimmt, was sie zu barbarischen Mitteln wie Krieg greifen lässt. Seine Erkenntnis: Russland ist nie eine Demokratie, sondern immer eine korrupte Bananenrepublik gewesen, mit Versagern und Lügnern in der Regierung. Seine Landsleute verschleiern obsessiv die Wahrheit und glauben an das Märchen der Stärke Russlands.
Melancholie, Verzweiflung, Verdorbenheit
Glukhovskys Geschichten offenbaren schonungslos die wesentlichen Aspekte der russischen Gesellschaft, die diese scheitern lassen. Allgegenwärtige Korruption, schamlose Ausbeutung durch eine reiche Elite, Propaganda und Manipulation, grenzenlose Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit, körperliche und seelische Verwahrlosung.
Die Geschichte „Oppenheimer“ spielt am Stützpunkt eines Atomsprengkopfs. Neben dem Missbrauch und Mobbing unter den Soldaten erschüttern vor allem Fantasien zu Krieg und Gewalt. Und eine Perspektivlosigkeit, die zu folgenschweren Taten verleitet. Perspektivlosigkeit überwältigt sogar jene, die es mittels Korruption in ein hohes politisches Amt, zu Macht und unermesslichem Reichtum gebracht haben. In „Sibirische Weisheit“ muss der von einer Midlife-Crisis gepeinigte Ptschiolkin in die Wälder jenseits Irkutsk reisen, um einen Lebenssinn zu finden.
Fast keine Helden, fast nur Widerlinge und Opportunisten
Unter den Protagonist:innen in Glukhovskys Geschichten gibt es wenige, mit denen Lesende sich identifizieren möchten. Die meisten sind korrupte Staatsbedienstete, manipulierte und angepasste Typen oder einfach arme Schweine. Ihnen gemein ist, dass sie allein auf ihren persönlichen Vorteil bedacht sind, ob es nun noch mehr Macht und Reichtum betrifft, oder einfach das Überleben.
Ein typischer Vertreter der korrumpierten Elite ist Iwan Nikolajewitch Antonow in der Geschichte „Utopia“. Er erfüllt sich einen lang gehegten Traum: eine Reise nach Paris. Doch Paris ist nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte.
Filipp aus „Tango“ ist vielleicht der Verachtenswerteste aller Akteure. Nicht nur, weil er Bücher und damit einen Teil von Russlands Kultur verbrennt. Typische Verlierer sind die Protagonisten aus „Am Boden“, die Hundefutter zum Wodka snacken. Überraschenderweise gibt es für sie noch die Hoffnung, aus der Lethargie zu erwachen.
Doch es gibt auch Helden in Glukhovskys Figuren-Ensemble. Professor Gotlib aus „From Hell“ ist eine von nicht gerade vielen positiven Figuren, ein Geologe, der einen Eingang zur Unterwelt entdeckt. Von einem mächtigen Gasunternehmen bekommt er den Pakt mit dem Teufel und ein besseres Leben angeboten. Und seine Enkelin wünscht sich sehnlich einen Umzug in das Land hinter den Spiegeln. Nicht nur aufgrund der Fantasy-Analogien ist „From Hell“ eine der wenigen erbaulichen Geschichten und mein Favorit der Sammlung.
Schwere Kost mit Erfrischungsspritzern aus Sarkasmus
Neben Melancholie und Tristesse bestimmen Sarkasmus und ironische Szenen Glukhovskys „Geschichten aus der Heimat“. Einige Geschichten wirken gnadenlos überzogen, bis in das Absurde verzerrt. Zu den bemerkenswertesten Effekten vieler dieser Erzählungen zählt, dass sich eine etablierte Stimmung durch eine Wendung in ihr Gegenteil dreht. Dies zeichnet zum Beispiel die bereits genannte Geschichte „Am Boden“ aus. Oder auch „Die wichtigste Nachricht“, in der ein Außerirdischer auf der Ringautobahn um Moskau im Stau landet, ausgerechnet vor dem Übertragungswagen eines TV-Senders. Der Alien kündigt an, der Menschheit eine wichtige Nachricht zu überbringen. Nachwuchsjournalist Sascha sieht seine Chance auf eine sensationelle Live-Übertragung gekommen. Doch in Russlands TV-Welt gelten andere Prioritäten als im Rest der Welt.
Wie eine Real-Satire kommt die Geschichte „Eine für alle“ herüber. Hier soll der Spezialist Goldowski Russland ein neues Image verpassen, das Patriotismus und Heimatliebe fördert. Während der Spezialist grübelt, was seine Heimat liebenswert macht, fährt er mit seinem BMW zu seiner Villa im Nobelviertel, trinkt argentinischen Wein, raucht Haschisch original aus den Niederlanden und ersinnt schließlich des Rätsels Lösung.
Ein immer wiederkehrender Protagonist in Glukhovskys Geschichten ist natürlich Putin. Der Autor verwendet verschiedene Namen und Bezeichnungen für ihn, entweder „Präsident“, „Nationaler Führer“ oder “Weißer Zar“. Meine Lieblingsbezeichnung für Putin ist „Sie wissen schon wer“.
In „Futter für thailändische Welse“ fliegen Präsident und Premier kreuz und quer durch Russland, um wichtige Projekte zu besuchen. Unter anderem besuchen sie die Stadt Sotschi, als sie gerade zur Olympiastadt umgebaut wird. Für diese Besuche schlüpft der Präsident in verschiedene Rollen, wie die des Bauarbeiters, des Arztes, des Managers. Und präsentiert der Presse und dem Volk die großartigen Erfolge Russlands. Hinter den Kulissen fragt der Präsident seinen Premier, was der Sinn dieser ständigen Reisen sei. Und die Antwort erhält er erst, als er heimlich und ohne Ankündigung nach Sotschi zurückkehrt.
In dieser Geschichte ist Putin eine Marionette, medienwirksam in Szene gesetzt und kaum die Geschicke seines Landes verstehend. Sie entstand 2012, also zehn Jahre vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine. Dennoch passt sie gut zu der aktuell öfter aufkommenden Frage, inwieweit Putin überhaupt Herr der Lage des Kriegsgeschehens ist.
Fazit
Zu Anfang der Anthologie lesen wir Geschichten, die 2010 zum ersten Mal veröffentlicht wurden, im Mittelteil Storys aus dem Jahr 2012 und schließlich Veröffentlichungen neueren Datums: aus 2016, 2019 und 2021. Je neuer die Geschichten sind, desto düsterer und absurder werden sie. Insgesamt fällt besonders in der Nachbetrachtung auf, wie vielschichtig Glukhovsky die Probleme Russlands aufzeigt und damit seine herbe Kritik an der Gesellschaft Russlands untermauert. Es ist nicht nur die Korruption, die Russland kaputt macht. Sondern die willkürliche Justiz („Telefonjustiz“), die systematische Kontrolle der Medien („Die wichtigste Nachricht“), der gänzlich fehlende Umwelt- und Arbeitsschutz („Schwefel“), sowie schreckliche humanitäre Missstände („Alles hat seinen Preis“). Und noch einiges mehr.
Etwas fragwürdig erscheinen mir die Beschreibungen der Frauen Russlands. Die männlichen Figuren sind weit in der Überzahl und fast keine der wenigen Frauen wirkt ansatzweise sympathisch. Auch unter den Männern sind die sympathischen Figuren eine Minderheit, ein paar gibt es jedoch. Frauen kommen leicht manipulierbar, charakterschwach und promiskuitiv herüber, was ebenso für Metaphern mit Frauen gilt. Fast alle Geschichten fallen beim Bechdel-Test (statistisches Hilfsmittel zur Untersuchung von Geschlechter-Klischees) durch. Die einzige Ausnahme ist die Geschichte „Schwefel“ in der eine Polizistin eine Mörderin befragt. Hier gelingt dem Autor wieder eine Umkehrung der Sichtweise auf die Protagonistinnen. Am Anfang wirken beide befremdlich und furchteinflößend, am Ende entwickeln wir Verständnis für die Mörderin und sehen die menschliche Seite der Polizistin. Geschichten über interessante Frauenschicksale gibt es auch in patriarchischen Gesellschaften wie der Russlands und ich hätte gern mehr davon gelesen.
Insgesamt überwiegt in dem Storyband eine Atmosphäre der Tristesse und Hoffnungslosigkeit. Wer eine positivere Lektüre des Autors lesen möchte, kann bedenkenlos zu seiner „Metro“- Trilogie greifen. Sie spielt zwar in einer vom Atomkrieg zerstörten, dystopischen Zukunft, in der die Menschen sich ihren Lebensraum in den U-Bahnschächten und Bahnhöfen der Moskauer Metro erschaffen haben. Es ist ebenfalls ein bitteres, hartes und erbarmungsloses Leben, dass die Protagonist:innen in „Metro“ führen. Jedoch haben sie wenigstens eine stärkende Gemeinschaft und ein sinnvolles Ziel. Beides fehlt in den „Geschichten aus der Heimat“.
- Autor: Dmitri Glukhovsky
- Titel: Geschichten aus der Heimat
- Originaltitel: РАССКАЗЫ О РОДИНЕ
- Übersetzer: M. David Drevs, Christiane Pöhlmann, Franziska Zwerg
- Verlag: Heyne Verlag
- Erschienen: 10/2022
- Einband: E-Book, Tolino
- Seiten: 299
- EAN: 978-3-641-30282-5
- Sonstige Informationen:
- Produktseite
- Erwerbsmöglichkeiten
Wertung: 12/15 dpt