
Die kleine Babyleiche ist kein schöner Anblick, als der Arzt Johannes Schreyer untersuchen soll, ob die minderjährige Mutter Anna Voigt ihr Kind gleich nach der Geburt vorsätzlich umgebracht hat. Klein, mit sorgenvollem Gesichtsausdruck, verfärbt und mit zahlreichen Stichwunden versehen liegt der zarte Körper in einem Tuch vor dem Doktor. Die Köchin der Familie Voigt hat den Leichnam im Garten ausgegraben und die Tochter der Familie Voigt beim Pfarrer angezeigt. Im 17. Jahrhundert wurden viele Frauen als Kindsmörderinnen beschuldigt, bis zum Geständnis gefoltert und dann lebendig begraben, gepfählt oder ertränkt, Dieses Schicksal droht auch der 14-jährigen Anna, die behauptet, bis zur eigentlichen Totgeburt nichts von ihrer Schwangerschaft gewusst zu haben.
Schreyer führt schließlich noch die Lungenschwimmprobe durch. Bleibt die Lunge des toten Säuglings an der Wasseroberfläche, enthält sie Luft – und somit hat das Kind nach Geburt noch für mindestens einen Atemzug gelebt. Sinkt die Lunge, bedeutet dies, dass das Kind schon tot zur Welt gekommen ist. Als die entnommene Lunge des Mädchens in Wasser sinkt, ist eigentlich klar: Der Säugling hat schon bei der Geburt nicht mehr gelebt. Doch die damalige Zeit war noch nicht soweit, solche medizinischen Experimente anzuerkennen. Zumal dies auch die Macht von Kirche und Justiz in Frage gestellt hätte. Stattdessen sieht die Constitutio Criminalis Carolina, das deutsche Strafgesetzbuch von 1532, etwas anderes vor, wenn die Frau nicht belegen kann, dass ihr Kind tatsächlich eine Totgeburt war: „Beharrt daher solch eine Mörderin auf ihrer gottlosen, unbewiesenen, störrischen Entschuldigung, sollte sie auf Grundlage obiger hinlänglicher Vermutungen zum Geständnis ihrer unmenschlichen und unchristlichen Tat durch ernsthafte und peinliche Befragungen gezwungen und nach dem erfolgten Eingestehen der Wahrheit zum Tode verurteilt werden.“ Das Prinzip folgt also dem der Hexenverfolgung im 16. und 17. Jahrhundert: Unter der grausamen Folter kommt es zu Geständnissen, die mit der Realität nichts zu tun haben.
Der historische Fall von Anna Voigt aus dem Jahr 1681 ist allerdings nicht alltäglich: Gutsherr Hans Heinrich Voigt will das Leben seiner Tochter (und seiner der Beihilfe beschuldigten Frau) retten und beauftragt den Anwalt Christian Thomasius mit der Verteidigung. Thomasius ist ein durchaus sehr selbstverliebter, aber auch sehr kluger Mann, der sich nur zu gerne mit den konservativen Kirchen- und Justizvertretern anlegt. Schnell wird aus der angeblichen Kindsmörderin Anna ein Politikum: Ein Amtsmann, der Hans Heinrich Voigt den Reichtum nicht gönnt, versucht den Niedergang der Voigts herbeizuführen, einige Kirchenmänner fühlen sich von Thomasius angegriffen und wollen ihn in seine Schranken verweisen, und mit der Lungenschwimmprobe setzt sich auch der ehrbare Arzt Schreyer der heftigsten Kritik aus. Wer sich jetzt hinter die angebliche Kindsmörderin stellt, läuft Gefahr, selbst in Mitleidenschaft gezogen zu werden und seinen guten Ruf zu verlieren.
Der norwegische Autor Tore Renberg hat dies alles bis ins letzte Detail recherchiert und schreibt die Geschichte der Kindsmörderin – ganz dem 17. Jahrhundert entsprechend – sehr barock ausufernd auf. Zum einen braucht man dafür starke Nerven und einen starken Magen, denn Renberg beschreibt Folterungen, die Haft in erbärmlichen Zellen und vieles andere ausdruckstark und konkreter, als man es sich manchmal wünschen würde. Zum anderen braucht es auch Geduld und ein großes Interesse an der Epoche, denn neben dem an sich schon verstrickten Verlauf der Geschichte über mehrere Jahre hinweg fügt Renberg auch viele Kapitel ein, die sich mit anderen Kindsmörderinnen beschäftigen, Balladen zitieren oder Folterungen anderer Verbrecher beschreiben. Predigten und Gesetzestexte werden über mehrere Seiten wiedergegeben und kommentiert, es wimmelt nur so vor Namen, die kein zweites Mal in der Geschichte vorkommen.
Zwischendurch meldet sich der Autor auch deutlich organisatorisch zu Wort: „Das wollte ich nur einschieben, um das Band der Vieldeutigkeit um die Dinge zu spannen, von denen ich hier erzähle. Zurück also zu diesem heißen, schwülen Junimorgen des Jahres 1684.“ Selbst einen Abstecher in die Gegenwart erlaubt sich Renberg – in einem Kapitel spricht er Anna direkt an, spricht von seinen Recherchereisen und den Visionen, in denen ihm Anna auf seinen Spaziergängen begegnete und neben ihm zu gehen schien.
Aber auch gleich von Beginn an ist den Lesern klar: Hier wird keine fiktive Geschichte erzählt, sondern ein echter Fall aus der Zeit nach dem 30-jährigen Krieg. Immer wieder bringt Renberg sich von Anfang an ein, bricht die Mauer zum Leser ein und ordnet das Geschehen in einen Gesamtkontext ein. In einer Nachschrift erläutert er ausführlich, welche Quellen er genutzt hat, welche Teile der Geschichte er mit seiner Fantasie gefüllt hat und wie sehr ihm die historischen Fakten am Herzen gelegen haben.
Fazit:
„Die Lungenschwimmprobe“ von Tore Renberg ist ein ganz spezieller historischer Roman: mit ca. 700 Seiten umfangreich, sehr den historischen Quellen und der Recherche verpflichtet und sprachlich mit seinem barocken Flair nicht einfach zu lesen. Es braucht etwas Zeit, um ins Buch zu finden, aber wer dabeibleibt, taucht in eine andere Zeit ein und lernt vieles über Gesetz, Kirche und Moral aus einer Zeit, die nicht so häufig für historische Romane in den Mittelpunkt gestellt wird. Man muss aber auch Lust auf etwas umständliche Kapitel haben, bei denen die eigentliche Handlung ins Abseits gerät. Eines muss aber definitiv erwähnt werden: Die sehr gelungene Übersetzung eines solchen Textes ist eine Mordsaufgabe, die von den beiden Übersetzerinnen auch in Anmerkungen am Ende des Romans erläutert wird.
- Autor: Tore Renberg
- Titel: Die Lungenschwimmprobe. Verteidigung einer jungen Frau, die des Kindsmords bezichtigt wurde
- Originaltitel: Lungeflyteprøven
- Übersetzer: Ina Kronenberger, Karoline Hippe
- Verlag: Luchterhand
- Erschienen: 10/2024
- Einband: Hardcover
- Seiten: 704
- ISBN: 978-3-630-87777-8
- Sonstige Informationen: Anhang mit den historischen Personen sowie Karten, Illustrationen sowie Quellen und Literaturverzeichnis
- „Die Lungenschwimmprobe“ beim Verlag

Wertung: 12/15 dpt