Tommie Goerz – Im Tal (Buch)

Die Widrigkeiten des Lebens und ein übermächtiger Vater

Eine Wiese, zwei Gehöfte, ein Bach und drum herum nur Wald. Ein idyllischer Ort will man meinen, doch die Gebäude sind lange verfallen und im oberen Hof liegt zudem die Leiche des 71-jährigen Toni Rosser. „Herzstillstand“, so die Diagnose, da fallen die zwei leeren Gläser auf dem Tisch des isoliert lebenden Mannes nicht mehr ins Gewicht und über eine fehlende Flasche oder woraus auch immer die Getränke kamen macht sich niemand Gedanken. Man stellt keine Fragen, denn der Toni war schon immer ein Eigenbrötler, unheimlich wie sein Vater Alois, kurzum jemand, von dem man sich gern fernhielt. Aber wer war dieser Toni, der oberhalb von Urspring lebte oder wie die Einheimischen sagen „droben im Tal“?

Aber das Gewitter ist da. Steht in der Tür, schnauft, sieht sich um. Sieht, dass kein Holz da ist, hört die Stalltür drüben klappern, riecht die angebrannten Kartoffeln. Sieht den Toni am Fenster stehen, träumen. Und entlädt sich.

Tommie Goerz ist vor allem als Krimiautor der bislang zehnbändigen Friedo-Behütuns-Reihe (2010-2023) sowie der Einzelwerke „Frenzel“ und „Meier“ bekannt. Mit seinem ersten literarischen Roman „Im Tal“, der erstmals 2023 als Hardcover und soeben als Taschenbuch erschienen ist, setzt er ein großes Ausrufezeichen, denn vor allem sprachlich ist das Werk beeindruckend und entfaltet eine starke Sogkraft. Das Ende, die Beantwortung der Frage wie Toni Rosser starb, ist zwar beinahe belanglos, gleichwohl hat sich hier der langjährige Krimiautor einen ordentlichen Paukenschlag einfallen lassen. Kurz nebenbei: Sein aktueller Roman „Im Schnee“ beschreibt ebenfalls ein dörflich geprägtes Leben und ist eine klare Kaufempfehlung.

Ein großes Leseerlebnis

1897 wird der Toni geboren und verliert bereits nach vier Jahren die Mutter. Der Vater arbeitet hart im Steinbruch, im Winter schlägt er Bäume, während der Sohn tagsüber allein bleibt. Es ist ein karges Leben inmitten der Natur, fast ein wenig romantisch, wäre da nicht die dunkle Seite des Vaters, die aus Alkohol und Gewalt besteht. Immer wieder bekommt der kleine Toni seine Prügel, einen Grund wird es schon geben und wenn nicht; auch egal. In der Schule wird es nicht besser und in der ersten Arbeit beim örtlichen Metzger ebenfalls nicht. Grundlos setzt es immer wieder Schläge bis es dem Toni reicht und er mit siebzehn Jahren einfach abhaut. Beim Militär werden Männer gesucht, da macht man beim Toni keine Ausnahme.

Nur einen Vogel wie daheim, wird ihm bewusst, hat er schon lange nicht mehr gesehen. Hier fliegt nichts und flattert zwitschernd durch den Himmel. Nur die Gewehrkugeln, wenn einer eine trockene Waffe hat. Auch das aber ist eher selten. Doch es gibt Ratten, überall, wohl weil es Leichen gibt, zumindest abgefetzte Teile. Arme, Beine, Fleischstücke, die man nicht eingesammelt hat. Und diese Ratten sind dick.

Es folgt der Erste Weltkrieg mit all seinem Grauen, der für Toni in Verdun endet. Er will nicht sterben und wählt den einzig möglichen Weg. So kehrt er zurück ins Tal und hat ein mulmiges Gefühl, wie ihn der Vater wohl aufnehmen wird. Die Angst ist indessen unbegründet, denn Alois ist bereits tot. Allein richtet er sich auf dem Hof neu ein, baut sich mühsam alles wieder auf, nicht zuletzt um Maria, der Tochter seiner einzigen Nachbarin, zu gefallen. Sollte er wenigstens in der Liebe sein Glück finden? Sie ahnen es vermutlich.

Noch keine zwanzig ist er jetzt und schon ein alter Hase und all den anderen, von denen viele nur kommen, um nach Stunden oder wenigen Tagen wieder fortgeschafft zu werden, zerfetzt, zerrissen und verblutet. Für Vaterland und Kaiser, der in der Schule ganz sicher noch an der Wand hängt.

Es folgt der Zweite Weltkrieg. Hierhin zieht es Toni, weil ihm inzwischen alles egal ist, doch sterben will er irgendwie dann doch nicht. Wie Zeit seines Lebens zieht er sich aus der Welt und gleichzeitig in sich zurück, verdrängt alles, vergisst sogar zu stottern und prompt „funktioniert“ er einwandfrei. Es folgt das Kriegsende, die letzten Jahre im Tal, wo er unter seltsamen Umständen stirbt. Und wie schon zu Beginn seines Lebens ist sein verhasster Vater der Grund allen Übels.

„Im Tal“ besteht aus knapp 240 Seiten, aufgeteilt in über hundert schlanke Kapitel. Das kann und sollte man an einem Tag bewältigen, denn aus der Hand legen lässt sich der Roman ohnehin nur schwerlich. Man wird in die Handlung hineingezogen, leidet mit dem eigentümlichen – nun ja – Helden und begleitet ihn bei seinem regelmäßigen Unheil. Sprachlich virtuos, es sei bewusst noch einmal erwähnt, ist „Im Tal“ nicht nur für Freunde des (trügerischen) Landlebens ein Erlebnis. Eine fiktive Biografie, aber die einzelnen Stationen und Begebenheiten wirken sehr real. Nicht zuletzt auch als Antikriegsroman lesenswert.

  • Autor: Tommie Goerz
  • Titel: Im Tal
  • Verlag: Piper
  • Umfang: 240 Seiten
  • Einband: Taschenbuch
  • Erschienen: Mai 2025
  • ISBN: 978-3-492-32130-3
  • Produktseite

Wertung: 12/15 dpt

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