Tommie Goerz – Im Schnee (Buch)

„Im Schnee“: Tiefste Provinz, gestern wie heute

Über achtzig Jahre ist Max Malter alt und hat sein Leben lang in dem kleinen Dorf namens Austhal verbracht. Er macht, was er immer macht, im Januar, wenn der Schnee fällt. Er steht am Fenster, beobachtet die weiße Pracht und die Vögel im Garten. Ein idyllischer Moment. Mehr braucht es nicht. Ein Radio oder gar einen Fernseher hat der Max nie gehabt. Frau und Kinder auch nicht. Es wäre also ein normaler, schöner Tag, würde da nicht im Hintergrund das Totenglöckchen läuten. Für Georg Wenzel, den Schorsch, lebenslanger Freund vom Max. Ein ruhiger Tag wird es somit nicht werden, denn Max muss natürlich zur Totenwacht. Die Männer halten diese bis Mitternacht, dann übernehmen die Frauen bis in die Früh, erst dann kommt der Bestatter.

„Es ist halt so. Wie es der Herrgott will.“

„Wie es der Herrgott will.“ So weit war alles gesagt.

Natürlich blickt man zurück, erzählt alte Geschichten, die bei den Männern nicht selten von unschönen Ereignissen geprägt sind. Doch es sind nur die echten Dörfler dabei, nicht jene Hinzugezogenen aus dem Neubaugebiet, dessen Grundstücke einst der Bürgermeister selbst zur Verfügung stellte und deren Bebauung genehmigte, als sich dessen Landwirtschaft nicht mehr lohnte. Über drei Jahrzehnte ist das her, aber neu sind die Leute halt trotzdem. Als die Frauen die Wacht übernehmen bleibt nur Max zurück. Jetzt werden Kirchenlieder angestimmt, gesungen und gestrickt. Statt Schnaps und Bier gibt es Kaffee und Tee.

Wenn man aus dem Dorf war, wusste man Bescheid, und wenn nicht, ging es einen auch nichts an.

Max schlummert immer wieder ein und erinnert sich an die Vergangenheit.

Sprachlich virtuoses Leseerlebnis

Nach „Im Tal“ ist „Im Schnee“ der zweite literarische Roman von Tommie Goerz, der zuvor als preisgekrönter Krimiautor („Frenzel“, „Meier“ sowie vor allem die Friedo-Behütuns-Reihe) auf sich aufmerksam machte. Nun also erneut ein sprachliches Leseerlebnis, spielend in einem fiktiven Dorf in Oberfranken. Tiefste Provinz wohin man blickt. Man bleibt unter sich, so war es immer schon. Als Anfang der 1990er Jahre das schöne, aber seit langer Zeit ungenutzte Schulgebäude für Asylanten genutzt werden sollte, riss man es kurzerhand mit ein paar Traktoren ein.

Die Mauern des Schulhauses waren eingerissen, aber die Mauer des Schweigens stand, so war das im Dorf.

Früher war das Dorf noch groß. Viele Arbeiter schafften im Sägewerk. Lange ist es her. Nur noch eine reguläre Wirtschaft gibt es, diese öffnet freitags und sonntags. Geschäfte gibt es keine, wer einkaufen muss, fährt in die Stadt oder lässt sich, wie Max, von seinem Nachbarn was mitbringen. Die räumliche wie vor allem geistige Enge wird von Tommie Goerz wunderbar eingefangen. Das Dorfleben im Wandel der Zeit, die unterschiedlichen Welten zwischen den dem Gemeinzwang unterworfenen Dörflern und den der Natur abhanden gekommenen Städtern, alte Tradition versus schnelllebige Oberflächlichkeit sowie der Umgang mit Tod und Trauer, aber auch dem Leben, werden präzise dargestellt. Es ist ein nachdenklich stimmendes Werk, dass man ungern aus der Hand legen mag.

Dieses Dorf ist wie jedes Dorf. Da wohnen Leute, und da gibt es Misthaufen. Und je näher man herankommt, desto mehr stinkt es.

„Im Schnee“ regt zudem an, einmal mehr über den Sinn des Lebens nachzudenken, etwa in jener Sequenz, wo der Fotograf Janis aus Nürnberg den Max besucht und sich fragt, welche Kräuter da wohl alle im angebotenen Kräutertee sind. Max sinniert, dass Janis den Beifuß wohl im Supermarkt kaufen würde, obwohl dieser womöglich bei ihm am Straßenrand wächst, er ihn aber nicht erkennen würde. Einfach pflücken, stattdessen aus dem Supermarkt, vermutlich Made in China.

Ein ruhiges, kraftvoll erzähltes Kleinod, dass nicht nur jener Leserschaft zu empfehlen ist, die den Bestseller „Ein Hof und elf Geschwister“ von Ewald Frie verschlungen haben.

  • Autor: Tommie Goerz
  • Titel: Im Schnee
  • Verlag: Piper
  • Umfang: 176 Seiten
  • Einband: Hardcover
  • Erschienen: Januar 2025
  • ISBN: 978-3-492-07348-6
  • Produktseite

Wertung: 12/15 dpt

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