
Die Kindheit von August Drach spielt sich ab zwischen Schlägen und Fürsorge – Schläge vom Vater, der willkürlich seinen kleinen Sohn schlägt, drangsaliert und demütigt, Fürsorge von der Mutter, die tatenlos zusieht, um den Sohn dann anschließend zu trösten. „Dem Vater fiel er in die Hände, der Mutter in die weit ausgebreiteten Arme. Die Eltern waren ein Kippbild, aus Schutz und Bedrohung, ein janusköpfiges Wesen, das einen erst mit kaltem, dann mit mitleidigem Gesicht ansah.“ Erst als der Vater nachts ohne Gepäck sang- und klanglos aus dem Leben der Familie verschwindet, schöpft August Hoffnung. Doch als er erkrankt und die Mutter erkennt, wie sie die liebevolle Pflege des Kindes mit Sinn erfüllt, beginnt etwas, was in der Medizin als Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom bekannt ist: Mit Medikamenten führt sie bewusst schwere Krankheiten bei August herbei, die sie dann mit erdrückender Fürsorge behandelt. Kann man über so ein Thema so schön wie Valerie Fritsch in „Zitronen“ schreiben? Und darf man so etwas Grausames in so eine poetische, metaphernreiche Sprache gießen? Das Ergebnis ist ein schmales Romanbändchen, inhaltlich so furchtbar wie es sprachlich wunderschön ist.
Valerie Fritsch gelingt es, dass jeder Satz dazu beiträgt, Mutter, Vater und Kind in ihren Persönlichkeiten vor sich zu sehen. Der Vater, „ein Mann mit großen Gesten, die ins Leere gingen, Gedanken, die zu kurz griffen, einem Jähzorn, der sich an jedem Missgeschick und an jedem Missverständnis entzünden konnte. Er war widerwillig alt, aber nie erwachsen geworden.“ Die Mutter „trug eine blonde Dauerwelle, die sich auf ihrem Kopf türmte, war sehnsüchtig und verloren, müde geworden vor der Zeit, mit schmalen Lippen, die sie stets im falschen Moment aufeinanderpresste. Vieles war ihr passiert, ihr Leben hatte sie sich nicht recht ausgesucht, aber in den entscheidenden Augenblicken auch nicht Nein gesagt.“ Und August, der sich für den Vater und dessen Taten schämt, aber später sehr lange nicht versteht, dass die geliebte Mutter die Ursache der vielen schweren Krankheiten ist, „Er war immer auf der Hut und immer etwas fern, und auch Fremden gegenüber hielt August eine Handbreit Distanz mehr. Nähe, spürte August, hatte ihren Preis.“ Man könnte beinahe jeden Satz zitieren, denn die Autorin sammelt viele kleine Szenen, die zur Charakterisierung und zur Atmosphäre beitragen. So liebt der gewalttätige Vater beispielsweise die beiden Hunde der Familie innig, stellt sich vor sie und jongliert für das tierische Publikum, hält ihnen Vorträge und schüttet ihnen sein Herz über sein verpfuschtes Leben aus. Die Mutter nimmt sich unterdessen der verzweifelten Nachbarin an, deren Kleinkind spurlos aus dem Garten verschwunden ist – Augusts Mutter betet mit ihr und schickt Wünsche und Versprechungen ans Universum, im Stillen beneidet sie das Ehepaar um die Aufmerksamkeit in ihrem großen Unglück. Solche kleinen Beschreibungen machen die Personen enorm plastisch.
Bedrückend ist die Atmosphäre in dem heruntergekommenen Häuschen, dem August nur dadurch entkommt, dass er mit 17 Jahren vom Blitz getroffen wird und im Krankenhaus – ohne die Obhut der Mutter – tatsächlich vollkommen gesundet. Der Freund der Mutter, ausgerechnet ein Arzt, der auch lange Zeit die Ursache der schweren Krankheiten von August nicht erkennt, rettet ihn letztendlich und besorgt ihm eine kleine Wohnung in der Stadt. August kann sich somit endlich der Mutter entziehen.
Doch sein Leben in der Stadt ist kein glückliches. Auch wenn er versucht, endlich das zu finden, was er nach dieser schlimmen Kindheit verdient hat, kann er sich von seiner Geschichte nicht lösen. Als Kind aufs Lügen und Vorspielen gegenüber dem Vater angewiesen, baut er sich jetzt auch Identitäten aus Lügen, taucht im Nachtleben ab, findet in der Künstlerin Ava die große Liebe, die er voller Verlustängste forciert und für die er bereit ist, mit selbst zugefügten Verletzungen zu bezahlen.
Ja, das alles ist sehr traurig und bedrückend. Zumal das gesamte Buch ohne direkte Rede auskommt und stattdessen ein allwissender Erzähler mit sehr scharfem Blick erzählt. So entsteht auch kein Kammerspiel mit drei Personen, sondern selbst die Bewohner der heruntergekommenen Nachbarschaft in der Stadt oder auch in dem kleinen, abgelegenen Dorf erhalten auf ein bis zwei Seiten ihre Geschichten. Dennoch hat man nie das Gefühl, dass Valerie Fritsch sich verzettelt und sinnlos abschweift. Nur das Weltbild, das dabei entsteht, ist zugegebenermaßen ein sehr düsteres und elendes.
Fazit:
Wer Sprache liebt und zugleich das schwere Schicksal eines Kindes erträgt, wird sich für „Zitronen“ von Valerie Fritsch begeistern. Voller Metaphern müssen die Sätze sorgfältig, mit Zeit gelesen werden – nicht, weil sie so schwer verständlich sind, sondern weil sie so gehaltvoll und so atmosphärisch sind. Und kaum ist man im Lese-Fluss und wird von der Sprache getragen, da setzt die Autorin immer wieder überraschende und aufwühlende Szenen. Und wäre das Buch ein Video bei Tiktok, so stünde bereits am Anfang die Einblendung „Wartet, bis ihr das Ende seht“ – denn das ist bei „Zitronen“ denkwürdig.
- Autorin: Valerie Fritsch
- Titel: Zitronen
- Verlag: Suhrkamp
- Erschienen: 02/2024
- Einband: Hardcover
- Seiten: 186
- ISBN: 978-3-518-43172-6
- Valerie Fritsch und ihr Roman Zitronen“ beim Suhrkamp-Verlag

Wertung: 15/15 dpt